Die Toten der Villa Triste
kurz gesagt, plötzlich inmitten einer Familie, die wie meine aussah und klang, zur Fremden geworden war. Plötzlich sehnte ich mir Emmelina oder Lodo herbei. Oder am besten alle beide. Als Alliierte auf diesem feindlichen Territorium, auf dem ich unversehens gelandet war.
Direkt nach dem Essen ging Mama zu Bett, nachdem sie aus heiterem Himmel verkündet hatte, dass sie Kopfschmerzen habe. Als ich anbot, ihr eine Tasse Kamillentee zu bringen, schüttelte sie den Kopf und antwortete, sie sei einfach nur müde und würde sich morgen früh bestimmt besser fühlen. Papa blieb im Arbeitszimmer. Issa bestand darauf, den Abwasch alleine zu erledigen. Ich ließ sie machen und versuchte, im Wohnzimmer zu lesen, gab aber nach einer Weile auf. Oben schloss ich meine Zimmertür ab, setzte mich aufs Bett und kämpfte gegen das Gefühl an, dass ich nach unten marschieren und den Kellerschlüssel einfordern sollte. Dass ich den Riegel zurückschieben, die Tür aufreißen und den Stufen ins Dunkel folgen sollte.
Als ich am nächsten Morgen in aller Frühe losging, war es im ganzen Haus ruhig. Die Kellertür war immer noch verriegelt, der Schlüssel immer noch verschwunden. Die Porzellanschüssel war wieder aufgeräumt, der große Topf war ausgeschrubbt und wieder aufgehängt worden. Die Kartoffeln waren weg.
Als ich an diesem Abend aus dem Krankenhaus kam, wartete Issa schon auf mich. Leichter Dunst lag über der Stadt, es nieselte, und es war kalt. Sie war zu Fuß gekommen, hatte ein Kopftuch umgelegt und die Hände tief in die Taschen geschoben. Mehrere Minuten gingen wir schweigend nebeneinanderher, links und rechts von meinem Fahrrad. Als wir zum Duomo kamen, begannen die Glocken zu läuten. Wir blieben kurz stehen und blickten an der gestreiften Marmorwand hinauf auf die riesige rote Kuppel, die darüber zu schweben schien. Ein Taubengeschwader tummelte sich zu unseren Füßen, flog dann los und stieg mit flatternden Schwingen in den grauen Abendhimmel auf.
Wir waren weitergegangen, einem Tausendfüßler von Händchen haltenden Schulmädchen mit geflochtenen Zöpfen hinterher, und hatten schon das Baptisterium erreicht – das ohne seine Bronzetüren verfallen aussah wie die Hütte eines Eremiten –, als ich die Frage endlich aussprach.
Ich stellte sie, ohne Issa anzusehen, konzentrierte mich dabei auf die Speichen meines Fahrrads, die in der feuchten Luft glänzten und das Licht der Laterne an der Ecke zur Via Roma zurückwarfen.
»Wie viele sind es?«
Ich spürte eher ihren Blick, als dass ich ihn sah, und gleich darauf das scharfe Zucken ihrer Schultern.
Es war ein langer Tag gewesen. Einer unserer Patienten war gestorben. Es ging das Gerücht um, dass in der Nähe von Siena die Spanische Grippe ausgebrochen sei. Ich war müde, ich fror und hatte noch keine Zeit gefunden, nach einem neuen Mantel zu suchen.
»Wie viele was?«
Als ich ihre gespielte Lässigkeit hörte, riss mir der Geduldsfaden. »Herrgott noch mal, Issa!« Ich brachte das Fahrrad abrupt zum Stehen. »Willst du mir weismachen«, zischte ich, über den Fahrradkorb gebeugt, damit mein Gesicht möglichst dicht vor ihrem war, »willst du mir allen Ernstes weismachen, dass ihr nichts mit diesem Zug zu tun hattet? Dass ihr niemanden in unserem Keller versteckt? Der unser Essen isst? Und Ricos Sachen trägt? Denn das werde ich dir sowieso nicht glauben. Und nur damit du es weißt«, ergänzte ich sicherheitshalber, »ich will lieber gar nicht mit dir reden, als von dir belogen zu werden.«
»Sei doch leise!«
Sie packte den Lenker und schob das Fahrrad wieder an. Ich blieb kurz stehen, spürte, wie mir das Herz im Hals schlug und die Farbe in die Wangen schoss, und eilte ihr dann hinterher. Vor uns auf dem Bürgersteig standen zwei rauchende deutsche Soldaten, deren Umhänge mit Nebeltropfen beschlagen waren. Wir schoben uns an ihnen vorbei und traten dabei auf die Fahrbahn.
»Drei«, sagte Issa ein paar Sekunden später.
Das hatte ich mir schon gedacht. Die Kartoffeln gestern Abend hatten für mindestens sechs Personen gereicht.
»Wer von ihnen kann kochen?«
Issa sah mich an und hätte beinahe gelächelt.
»Einer der Amerikaner. Es sind zwei Amerikaner und ein Engländer. Woher hast du das gewusst?«
»Dass sie kochen können?«
»Dass sie da sind.«
»Du kannst glauben, was du willst, Issa, aber ich bin nicht dumm.«
Vor uns auf der Piazza Vittorio Emanuele drehte sich das Karussell, und die Musik schallte hoch und blechern durch die kalte
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