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Die Toten der Villa Triste

Die Toten der Villa Triste

Titel: Die Toten der Villa Triste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucretia Grindle
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Luft. Maronenduft wehte von einem Grill herüber, den ein alter Mann mit einem schlafenden Hund zu seinen Füßen beaufsichtigte. Seine Frau drehte aus Zeitungspapier Tüten, füllte sie mit bloßen Fingern und versenkte die Münzen in einer Dose. Das Café Paskowski war bereits gut besucht, die Tische am Fenster leuchteten wie helle Farbkleckse durch die Scheiben.
    »Weiß Rico Bescheid?«
    Issa lächelte. »Natürlich.«
    »Und Mama und Papa?«
    Sie sparte sich die Antwort. Sie wusste, dass ich sie ohnehin kannte, dass ich sie aus den Augen meiner Mutter gelesen hatte – das Wissen darüber, was sich, während wir in der Küche gestanden hatten, unter unseren Füßen abspielte, was sich hinter unserer Kellertür befand, dass allein das Essen, das sie auf den Herd gestellt und in den Ofen geschoben hatte, uns das Leben kosten konnte.
    Ich blieb stehen und sah meine Schwester an. »Warum habt ihr mir nichts gesagt?«, fragte ich.
    Issa sah mich ebenfalls an. Sie wartete eine Sekunde ab. Dann zuckte sie mit den Achseln. »Weil wir dir nicht trauen konnten.«
    Da war sie wieder, diese arglose Kälte, die ihr eigen war. Die Worte spritzten kein Gift, sie waren nicht von Bosheit unterlegt. Sie stellten bloß etwas klar.
    Und sie trafen mich wie ein Schlag. Wie eine Ohrfeige. So fest und hart, dass mir Tränen in die Augen schossen.
    Issa beobachtete mich – wahrscheinlich, um festzustellen, wie ich reagieren würde –, darum wandte ich mich ab und sah den Orsanmichele hinauf, als würde ich die Reliefs von Della Robbia bewundern, einige der wenigen Kunstwerke, die noch in der Stadt verblieben waren. Denn meine Schwester sollte nicht sehen, dass ich ihr sofort recht gegeben hätte. Insgeheim musste ich ihr zugestehen, dass es nach menschlichem Ermessen nicht klug gewesen wäre, mir zu vertrauen. Weil ich zu schwach und zu ängstlich war. Und zwar, seit ich denken konnte. Schon vor dem Krieg war ich nicht so stark und tapfer gewesen wie Isabella oder Enrico. Ich hegte keine edlen Gefühle oder Absichten. Eigentlich hatte ich nur Lodo heiraten und ein einfaches, glückliches Leben führen wollen, so wie es Millionen von Frauen jahrhundertelang vor mir geführt hatten.
    Ich wischte mir mit dem Rücken meines Handschuhs über die Augen und drehte mich wieder zu ihr um.
    »Dann weiß ich nicht«, sagte ich, »warum du es mir jetzt erzählst.«
    »Weil wir dich brauchen.«
    Ich starrte sie an. Und dachte an diesen Jungen – an den armen Massimo mit seinem lauten Lachen und den kalten Augen, der wahrscheinlich bis zum Hals in der Sache steckte, der aber, selbst wenn er noch so vielen Nazis und Faschisten begegnete, nie jemanden treffen würde, der härter war als meine Schwester.
    Ich entriss ihr den Fahrradlenker, zog das Rad von ihr weg und bog in die Via Calzaiuoli ein.
    Isabella wartete kurz ab und lief mir dann hinterher. Sie legte ihre Hand auf meine und zwang mich so anzuhalten.
    »Nicht!« Ich wirbelte herum. »Spar dir deine Bitten.«
    Issa trat einen Schritt zurück, als hätte ich sie geohrfeigt.
    »Meinetwegen kannst du mir ins Gesicht sagen, dass ich nicht vertrauenswürdig und feige bin – vielleicht hast du damit sogar recht, das gestehe ich dir zu. Aber wenn du mich so verachtest, kannst du mich nicht gleichzeitig um Hilfe bitten.«
    Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und schloss ihn wieder. Wieder trat sie einen Schritt zurück auf den Bürgersteig, während ich losging, ohne genau zu wissen, wohin ich wollte, aber so wütend, dass ich am ganzen Leib bebte.
    Auf der Via Calzaiuoli hatten noch einige Geschäfte geöffnet. Die Menschen standen in Gruppen zusammen und lösten sich wieder voneinander, schlenderten vorbei oder blieben stehen, um sich die Schaufenster anzusehen. Das Leben versuchte, Normalität vorzuspielen. Ich spürte, wie ich zitterte, und schluckte mühsam die Tränen hinunter.
    Ich schloss die Augen und wünschte mir von ganzem Herzen, dass ich Lodo auf mich zukommen sähe, wenn ich sie wieder öffnete. Er wollte bestimmt nicht, dass ich zur Partisanin wurde oder mich dem Widerstand anschloss oder Züge in die Luft jagte oder worum Issa mich auch immer bitten mochte. Er wollte nur, dass ich seine Frau wurde. Weil er mich liebte.
    Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und schreckte auf. Isabella hatte mich eingeholt.
    »Bitte verzeih mir. Bitte verzeih mir, Cati«, sagte sie. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Es stimmt nicht, dass wir dir nicht vertrauen. Bitte verzeih

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