Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
Vom Netzwerk:
seine Tochter Ana als Heranwachsende, aber nur wenige Ana mit ihrer Tochter Ofelia. Sevilla und Liliana hatten einst gehofft, dass sie den ganzen Flur mit Bildern ihrer Kinder und Enkelkinder schmücken könnten, doch eine Wand war noch ganz leer, die andere nur teilweise bedeckt.
    Sevilla zog sich im Bad aus und duschte. Sein Spiegelbild gefiel ihm nicht – die geröteten Augen, die hängenden Wangen –, aber er rasierte sich und benutzte Aftershave und hoffte, dass es am nächsten Tag besser sein würde. Er dachte ganz kurz an Kelly, verdrängte das Bild von ihm in seiner Zelle jedoch aus seinen Gedanken.
»Mañana«,
sagte Sevilla laut.
    Er zog einen Pyjama, einen beinahe durchsichtigen Morgenmantel und Hausschuhe an und ging zum Zimmer seiner Tochter. Ursprünglich war es sein und Lilianas Zimmer gewesen, doch als Ofelia ohne Vater zur Welt kam, beschlossen sie, das Zimmer dem Kind und seiner Mutter zu überlassen. Das Bett sah klein und ordentlich aus, Ofelias Wiege stand daneben.Auf dem Wickeltisch lagen immer noch Baumwollwindeln, Stecknadeln und Salben. Einmal hatte Señora Alvarez, die für ihn putzte, Sevilla gefragt, ob er nicht endlich alles hinausschaffen und hergeben wolle, doch Sevilla sagte
nein,
auch wenn er nicht erklären konnte, warum.
    »Hola, hija«,
sagte Sevilla in das unbewohnte Zimmer hinein.
»Hola, nieta.«
    Er setzte sich auf das Bett. Ein Bild von Ana und Ofelia stand auf dem Nachttisch. Sevilla nahm es in die Hand, sah das Bild jedoch nicht direkt an: eine junge Frau und ein Baby im Herbst im Parque Central. Ana lächelte und entblößte dadurch einen schiefen Schneidezahn.
    Sevilla weinte nicht, da seine Tränen längst versiegt waren. Er saß lediglich da und spürte die Last auf dem Herzen, bis der Whisky endlich seine Wirkung tat und ihn schläfrig machte. Als er kaum noch die Augen offen halten konnte, stellte er das Foto weg, ging in das Zimmer, das er sich einst mit seiner Frau geteilt hatte, und legte sich ins Bett.
    Er schlief, aber es war kein guter Schlaf, auch wenn die Träume vage blieben und er sich nicht an sie erinnern konnte, wenn er mitten in der Nacht kurz aufwachte.

ZWEI
    Das Telefon läutete am Morgen nach dem Kaffee. Sevilla stand in seinem zerknitterten Pyjama in der Küche, die Morgensonne schien durch die vergitterten Fenster vom Garten herein. Das Haus roch nach frischem Kaffee, aber nicht nach einem Zuhause.
»Bueno?«
    »Der Amerikaner ist tot.«
    Sevilla spürte Hitze und Schmerzen im Ohr. »Was?«
    »Kelly Courter ist tot«, sagte der Mann am anderen Ende.
    »Was? Wann? Wer spricht?«
    Ein Summen ertönte in der Leitung. Sevilla verfehlte die Gabel mit dem Hörer und verschüttete gleichzeitig Kaffee. Fluchend legte er ihn richtig auf, doch seine Hände zitterten, seine Gedanken rasten.
    »Ich wisch das auf«, sagte er ins Leere, dann griff er abermals zum Telefon.

DREI
    Sevilla fuhr zum Hospital General, ein schmuckloser Klotz mit Sprenkeln von Fenstern. Er zeigte dem Parkwächter seine Marke und parkte auf dem Parkplatz eines Arztes. Zeit seines Lebens hatte Sevilla endlose Stunden im Hospital General verbracht und die überfüllten Wartezimmer und rissigen Plastikstühle, den Geruch von Tod, Urin, Blut und Zigaretten ertragen.
    Um diese frühe Uhrzeit sah es kein bisschen anders aus, davon abgesehen vielleicht, dass weniger Leute anwesend waren. Sevilla sah einen alten Mann im Rollstuhl, der mit hochgelegtem Bein am Tropf hing. Leute schliefen im Sitzen oder aneinandergelehnt. In einer Ecke tönte leise ein Fernseher, der unter der Decke hing; durch das schwache Signal wirkten die Farben unecht.
    Ein gesprungenes Schiebefenster schützte das Personal am Empfang; eine Schwester öffnete es, als Sevilla näher kam. Hier gab es noch keine Computer. Im Hospital General verwendeten sie Klemmbretter und verwaschen fotokopierte Formulare. Ihr Schreibtisch war von Papieren übersät. Sevilla zeigte erneut seine Marke. »Ich suche nach einem Patienten: Kelly Courter.«
    »Wann wurde er eingeliefert?«
    »Ich weiß nicht. Irgendwann gestern Nacht.«
    Die Frau war jung, höchstens zwanzig, ihr Anblick erfüllte Sevilla mit Schmerz. Sie kramte in den zahlreichen Dokumentenschichten. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine Falte, die jedoch wieder verschwand, als sie aufschaute. »Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass er sich in
Cuidado Intensivo
befindet.«
    »Welche Richtung?«
    »Durch diese Tür. Den Flur entlang. Dann sehen Sie die

Weitere Kostenlose Bücher