Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
Vom Netzwerk:
Aufseher patrouillierten stündlich durch den Trakt, manchmal allein, manchmal zu zweit, und ihre Schritte hörten sich an, als würde eine große Uhr ticken. Kelly keuchte auf seiner Pritsche. Er wartete, dass der Schatten im halbdunklen Flur jenseits der Zellentür vorübergehen würde.
    Der Mann kam zu seiner Zelle und blieb stehen. Kelly erkannte den Körperbau des älteren Polizisten – breite Schultern, großer Kopf, Stiernacken – allein an seinem Schatten. Der Polizist sagte nichts, aber Kelly hörte ihn atmen.
    »Ich war es nicht«, murmelte Kelly, doch seine Stimme versagte. Er versuchte es noch einmal. »Ich war es nicht.«
    Schlüssel klirrten, der Polizist schloss die Zelle auf. Er machte die Tür nicht hinter sich zu, doch Kelly hätte nicht fliehen können, selbst wenn er gewollt hätte; er starb innerlich, war gebrochen und hatte nichts mehr, für das es sich zu leben lohnte. Als der Polizist über der Pritsche aufragte, schien er drei Meter groß und Kelly nur ein Kind zu sein.
    »Ich … ich sage nicht, dass ich es war.«
    Andere Schatten scharten sich um die Zellentür. Auch sie blieben stumm; der gesamte Trakt hielt den Atem an. Kelly wusste, wenn er um Hilfe rief, würde es sein, als wäre er allein; der Polizist wäre nicht da, die anderen wären nicht da, und jede Zelle leer, da das Gefängnis entvölkert wäre.
    »Einen Scheißdreck sage ich, dass ich es war.«
    Kelly sah den Schläger nicht, aber natürlich musste ihn der Polizist die ganze Zeit bei sich gehabt haben. Das Holz traf seinen Körper, Kelly spürte Fleisch und Knochen nachgeben. Sein Kiefer war gebrochen, frisches Blut strömte ihm in den Mund. Der Schmerz besaß Farbe und Textur. Kelly hob die Hand, sein Handgelenk brach. Er drehte sich um, damit er die schlimmsten Schläge mit dem Rücken abfedern könnte, doch der Polizist zerrte ihn von der Pritsche auf den Zellenboden, wo es Hiebe undFußtritte hagelte, einen nach dem anderen, bis Kelly sie nicht mehr auseinanderhalten konnte.
    Er wartete, dass der Gong ertönen würde, doch der Ringrichter verpasste den richtigen Zeitpunkt. Kelly griff nach den Seilen, und jemand trat ihm auf die Finger. Das Rauschen des Blutes in seinen Ohren wurde zum Brüllen der Menge.
Délo a la madre! Délo a la madre!
    Wie würde Denny die Blutung stoppen? Zwischen den Runden blieb nicht genügend Zeit, sämtliche Schwellungen zu versorgen. Er war kaputt, der Ringrichter hätte längst eingreifen müssen, aber sie hörten einfach nicht auf. Die Ringscheinwerfer brannten herunter, die Gesichter außerhalb des Rings wirkten schemenhaft und verzerrt. Paloma war da. Estéban war da. Der kleine Junge war da und hatte das verbogene Fahrrad neben sich. Und in der Ecke rief Denny nach einer weiteren Runde:
Kelly, hältst du noch eine Runde durch?
    Auf dem Rücken liegend sah er Captain Garcia mit dem abgesägten Baseballschläger; er war von oben bis unten mit Blut bespritzt, das heruntertropfte, und dennoch hob er ihn immer wieder, ließ ihn hinuntersausen und bescherte Kelly so unerträgliche Schmerzen, dass er sie nicht einmal mehr spüren konnte.
    Ein Gebet kam als Blutblase über aufgeplatzte Lippen. Ein Flehen zerfiel zu einem Murmeln. Als Kelly sich emporreckte, hob er dieselbe verstümmelte Hand wie das zerschmetterte Kind auf der Straße, während der Zug donnernd vorüberfuhr. Und dann hörte er nur noch Musik, Eliseo Robles sang wie aus weiter Ferne für Ramón Ayala y sus Bravos Del Norte:
    Un rinconcito en el cielo
    Juntos, unidos los dos
    Y cuando caiga la noche
    Te daré mi amor

Dritter Teil
PADRE

EINS
    In Rafael Téodulo Sevilla Adáns Jugend waren Bier und Tequila die Drogen seiner Wahl gewesen. Sie waren billig, überall zu bekommen und erfüllten ihren Zweck; mehr konnte man als Mann nicht verlangen. Mit der Zeit entwickelte Sevilla einen Geschmack für Whisky, besonders Johnny Walker; heute brauchte er nichts anderes mehr.
    Er trank stets allein, niemals in einer Bar. Und da Sevilla auch zu Hause nicht trank, machte er es am einzigen Ort, wo er sich wohlfühlte: am Lenkrad seines Autos, das vor seinem Hoftor parkte.
    Hier standen die kleinen Häuser dicht gedrängt; aber von geweißelten Betonmauern, schmiedeeisernen Gittern und schweren Riegeln zum Schutz vor Einbrechern voneinander getrennt. Wenn es in Ciudad Juárez eine Konstante gab, dann waren es diese Riegel, die stets und allerorten flüsterten, dass man nirgendwo sicher war, nirgendwo.
    Die Sonne ging unter, doch die Hitze

Weitere Kostenlose Bücher