Die toten Frauen von Juárez
Kelly.
»Nein.«
»Gut, ich habe nämlich Hunger«, sagte Kelly, und das stimmte. Er erinnerte sich nicht, wann er die letzte Mahlzeit gegessen und unten behalten hatte, doch jetzt wurde das Verlangen nach etwas im Bauch immer stärker. Essen würde seinen Muskeln wieder Kraft geben. Ihm gefiel es nicht, wie er immer noch das Bein nachzog und die Wade sich seltsam taub anfühlte, wenn er sie berührte.
Er setzte sich, legte sich aber nicht wieder hin. Derselbe Aufseher ging an der Zelle vorbei; diesmal sah der Mann Kelly an. Als ihre Blicke sich begegneten, wandte sich der Aufseher hastig ab und ging weiter.
Gaspar stieg von seiner Pritsche herunter und ging mit dem Rücken zur Wand in die Hocke. »Die sehen es auch«, sagte er.
»Was?«, fragte Kelly.
»Wenn sie dich das nächste Mal holen kommen, bekomme ich die untere Pritsche wieder«, antwortete Gaspar.
Kelly sah zur Zellentür. Der Aufseher kam nicht wieder. »Die bringen mich nicht um«, sagte er.
»Nein«, sagte Gaspar. »Keiner bringt hier jemanden um. Die Leute sterben einfach.«
»Ich sage denen nicht, was sie von mir hören wollen.«
»Dann bist du dümmer, als du aussiehst.«
Gaspar verstummte, Kelly sah den anderen Mann an. Er betrachtete Gaspars Hemd, die saubere Drillichhose, die bloßen Füße. Gaspar hatte ausgeprägte Schwielen an den Zehen, besonders am großen Zeh, und die blassen Linien alter Narben. Die Hände waren ebenfalls von Narben gezeichnet.
»Bist du ein Bulle oder arbeitest du nur für die Bullen?«, fragte Kelly.
Als Gaspar sich streckte, sah er aus wie eine zierliche streunende Katze. »Niemand stellt hier drin solche Fragen«, antwortete er schließlich.
»Ich stelle sie.«
»Ich hab keine Antwort für dich«, sagte Gaspar und wandte den Blick ab.
Kelly lächelte in sich hinein. »Sag ihnen, was immer du ihnen auch sagen willst. Mit den Konsequenzen musst du allein klarkommen.«
»Hast du das Mädchen getötet?«
Das Lächeln verschwand. »Sie war kein Mädchen. Sie war eine Frau.«
»Hast du sie getötet?«
»Nein.«
»Du weißt, ich muss das fragen. Ist nicht persönlich gemeint.«
»Ich habe sie nicht getötet«, sagte Kelly. »Und ich werde keinem was anderes erzählen. Sag ihnen das. Sag es ihnen und warte ab, was sie machen.«
VIERZEHN
Gaspar rief nach einem Aufseher. Es dauerte eine Weile, doch dann kam einer. Er ging, ohne sich von Kelly zu verabschieden. Auch gut. Ein anderer Aufseher brachte etwas zu essen, das Kelly gierig verschlang, mit wackligen Zähnen kaute und kaum schmeckte. Als er fertig war, schob er das Tablett unter dem Gitter durch; nach einiger Zeit kam jemand vorbei und holte es ab.
Erst als er allein war, spürte Kelly wieder die Müdigkeit. Er legte sich auf die Pritsche und schlief; als er wieder erwachte, waren fast alle Lichter ausgeschaltet, es herrschte vollkommene Stille in dem Gefängnistrakt. Die Zelle selbst wirkte wie schwarz gestrichen.
Jede Bewegung tat ihm weh, dennoch setzte er sich auf den Rand der Pritsche und zog die Schuhe aus. Er stellte sie ordentlich nebeneinander, genau wie Gaspar. Mit bloßen Füßen spürte er die minimalen Bewegungen des Gebäudes; hunderte Körper in Bewegung übertrugen etwas in den Beton, das Kelly wie eine Vibration spüren konnte. In einem Fuß hatte er mehr Gefühl als im anderen. Kelly begriff halbwegs, dass das verletzte Bein nie wieder richtig funktionieren würde, doch seltsamerweise beunruhigte ihn dieses Wissen nicht allzu sehr.
»Es tut mir alles so leid«, flüsterte Kelly. Seine Stimme klang krächzend, das Sprechen tat ihm weh. Abermals erkannte er sich selbst nicht wieder. »Ich war ein Idiot. Es tut mir leid.«
Kelly legte eine Hand auf sein Knie, als würde er den Kopf des armen toten Jungen auf der Straße berühren oder Paloma im Schlaf. Seine Finger zitterten. Er weinte wieder.
»Ich habe nicht nachgedacht … über gar nichts. Ich weiß, das reicht nicht, aber mehr kann ich nicht sagen. Und ich werde ganz bestimmt nichts mehr versauen. Versprochen. Irgendwie bringe ich alles in Ordnung. Wenn Gott mich lässt, bringe ich alles wieder in Ordnung.«
Er zog sich an der Pritsche in die Höhe und schleppte sich von dem Etagenbett zur Wand. Er zwang sich, die sechs Schritte von einer zur anderenWand dreimal zu gehen, dann brach er schweißgebadet wieder auf der Pritsche zusammen. Sein Herz pochte unregelmäßig.
Eine abgeschlossene Tür wurde aufgesperrt, Schritte hallten auf Beton. Die Häftlinge regten sich nicht.
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