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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hawken
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anderen Polizisten über die
comida corrida
hermachen konnten, während ein Soldat zu ihrem Schutz an der Tür Wache hielt. Der Bus zum Parkplatz kam alle fünfzehn Minuten. Enrique sah auf die Uhr.
    Er wollte nicht draußen in der Sonne warten, doch im Treppenhausherumzulungern, wäre auch nicht gut gewesen. Er durchquerte die Halle, betrat die Herrentoilette, ging in eine Kabine und setzte sich, ohne die Hose herunterzulassen. Als er das Notizbuch zur Hand nahm, aus der Plastiktüte zog und darin blätterte, kam er sich vor, als würde er etwas Verbotenes tun.
    Bei dem
cuaderno
handelte es sich um ein billiges Ding mit Spiralbindung und zerkratztem Einband. Unebenmäßige Würmer aus Papier zogen sich durch die Spirale, wo Kelly Seiten herausgerissen und weggeworfen hatte. In der ersten Hälfte standen Namen, Adressen und Telefonnummern, die Enrique nichts sagten. Ein dünner Streifen braunes Packpapier kennzeichnete den Teil, in dem der Amerikaner seine Termine eingetragen hatte.
    Kelly Courter besaß eine kindliche Handschrift mit großen Bögen und Buchstaben, die nicht immer dieselbe Größe oder Form hatten. Er schrieb Englisch, aber Enrique konnte die Sprache gut genug, dass er das eine oder andere Wort übersetzen konnte. Im letzten Drittel des Notizbuchs fand er einen unvollendeten Brief an das Opfer, mehr als einen Monat vor dem Verbrechen datiert. Keine Spur von dem Hass oder der Art von Wut, die einen misshandelten, halb verbrannten Leichnam in einem flachen Grab zur Folge hatte.
    Enrique sah auf die Uhr. Fünf Minuten musste er noch warten.
    Er blätterte nochmals durch das Notizbuch. Das Papier klebte an seinen Fingern, und da merkte er, dass er trotz der Klimaanlage schwitzte. Er stellte sich vor, wie Captain Garcia in die Toilette stürmte und die Tür der Kabine mit einem einzigen Fausthieb aufbrach. Enrique wäre zwischen dünnen Metallwänden gefangen, wenn die Prügel anfingen. Das hatte er oft genug mit angesehen.
    Jetzt zitterten seine Hände, und das reichte. Enrique stopfte die Plastiktüte in die Hosentasche und versteckte das Notizbuch wieder im Jackett. Automatisch betätigte er die Spülung, als er aufstand. Danach kam er sich dumm vor. Er entriegelte die Kabinentür und blickte hinaus, aber niemand hatte in der Zwischenzeit die Toilette betreten.
    Der Transporter fuhr in dem Moment vor, als Enrique das Gebäude verließ.Er und ein halbes Dutzend weitere Polizisten verteilten sich auf drei Reihen von Sitzbänken. »Dreh die Lüftung auf«, sagte einer. Ein anderer stimmte zu. Der Fahrer gehorchte, doch die frische, kühle Luft strömte um den Gewehrlauf des Wachsoldaten herum zum offenen Fenster hinaus.
    Der Mann neben Enrique rempelte ihn an. »Ich kenn dich. Bist du nicht Garcias Musterknabe?«
    Enrique kannte den Mann nicht. Er war untersetzt, älter, das Gesicht möglicherweise vertraut, aber nicht im Moment. Enrique nickte. »Ich bin ihm zugeteilt, ja.«
    »La Bestia«, sagte der Polizist, der zuerst gesprochen hatte. »Scheiße.«
    »Du siehst nicht dumm genug aus, um sein Handlanger zu sein«, sagte ein anderer.
    »Das stimmt«, bekräftigte der ältere Polizist. Er maß Enrique mit Blicken, worauf dieser zum Fenster hinausschaute. »Du scheinst mehr der Typ zu sein, der sich mit Büchern statt mit Verdächtigen herumschlägt.«
    Die anderen Polizisten lachten. Der Transporter fuhr weiter. Enrique sah zum Eingang zurück, während sie wendeten und die Straße zurückfuhren. Garcia kam nicht zu der Rauchglastür herausgestürmt. Die Soldaten blickten ihnen nicht einmal nach; sie hatten anderes im Sinn.
    Die Polizisten redeten weiter, obwohl Enrique schwieg. »Weißt du«, sagte einer, »La Bestia ist so dumm, der würde versuchen, einen Fisch zu ertränken.«
    »Müssen Sie ihm seine Aufträge vorlesen?«, fragte der ältere Polizist Enrique. »Oder kriegt er Akten mit Bildern drin?«
    Enrique schüttelte den Kopf. Das Notizbuch klebte am Stoff seines Hemdes. Er schwitzte wieder.
    »Wenigstens kriegt er diese
narco
-Dreckskerle klein«, sagte der erste Polizist. Das Gelächter verstummte und wich einhelliger Zustimmung ringsum. »Wenn man dazu dumm sein muss, dann ist es eben so.«
    Der ältere Polizist grunzte. Er stieß Enrique an. »Nimm dir die Witze nicht so zu Herzen,
amigo.
Die sind alle nur neidisch. Die haben die Vorschriften für uns gemacht, nicht für Garcia. Wir sollten alle so freie Hand haben wie er.«
    »Schon gut«, brachte Enrique heraus. Er sah den Parkplatz, den

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