Die toten Frauen von Juárez
haben Sie vorher nicht gesagt. Sie sagten, dass es wichtig ist.«
»
Natürlich
ist es wichtig!«, fauchte Sevilla zurück. »Aber es zu wissen und etwas zu unternehmen, sind zwei Paar Stiefel. Mein Feuer kommt und geht. Bei Tage sieht alles so einfach aus, aber nachts bin ich mir nicht mehr so sicher.«
»Mit wem wollen Sie reden?«, fragte Enrique.
»Ich kenne ein Mädchen, das viel Zeit mit Paloma Salazar verbracht hat. Die suchen nach ihr. Nicht La Bestia, aber einer wie er. Sie ist eineFrau, und sie ist arm. Die finden eine Möglichkeit, sie einzuschüchtern, ohne Schlagstöcke dabei einzusetzen. Vielleicht kann ich zurückschlagen. Vielleicht ist es schon zu spät.«
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Ich bin
betrunken
!« rief Sevilla aus. »Ich bin alt und betrunken und das« – er hob das alte Notizbuch auf und fuchtelte damit herum –, »das reicht nicht! Ich dachte, ich würde etwas Entscheidendes darin finden, das zu meinen heutigen Erkenntnissen passt, aber das ist Blödsinn! Derselbe Blödsinn wie immer. Gottverdammter Kelly.«
»Wie viel haben Sie getrunken?«, fragte Enrique.
»Zu viel. Nicht genug.«
Enrique ging auf und ab. »Was zum Teufel mache ich hier? Geben Sie mir das Notizbuch.«
Sevilla überließ es ihm ohne Widerworte. Sein Gesicht brannte.
»Sie haben mir etwas von Pflichtgefühl und Verantwortung erzählt, und jetzt können Sie nicht einmal das Trinken sein lassen? Was, wenn Garcia mich heute mit diesem Notizbuch gesehen hätte? Was hätte ich für eine Ausrede benutzen können? Oder hätte ich ihn einfach zu Ihnen schicken sollen?«
Als Sevilla wieder die Hände an die Augen legte, spürte er Tränen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte Sie nicht …«
»Nein, hätten Sie nicht«, stimmte Enrique zu.
»Hier wirke ich wohl nicht so eindrucksvoll.«
»Nein, ganz und gar nicht.«
»Es tut mir leid.«
Enrique ließ sich so auf die Couch fallen, dass die Decke verrutschte. Sevilla wollte hingehen und die Falten glätten, blieb aber stehen, wo er war. »Es sollte Ihnen auch leid tun, aber dafür haben wir keine Zeit. Wir stecken bis zum Hals drin. Die Entscheidung ist gefallen.«
Die Uhr tickte einhundert Mal, bis Sevilla wieder etwas sagte. »Ja, wir stecken bis zum Hals drin«, sagte er. »Und das bleibt auch so, bis wir Antworten haben. Darauf haben wir uns geeinigt.«
»Mit wem reden Sie? Wer ist diese Frau, die Paloma Salazar kannte?«
Sevilla setzte sich auf den Sessel und umklammerte die Armlehnen. Das gab ihm Halt. Er hatte keine Kopfschmerzen mehr. »Kennen Sie Mujeres Sin Voces?«
»Die Frauen in Schwarz? Ich habe sie schon gesehen.«
»Paloma gehörte dazu. Diese Frau, Ella Arellano, gehört auch dazu. Ich kannte sie beide. Von früher.«
»Was? Wie das?«
Sevilla holte tief Luft. »Weil meine Tochter ebenfalls zu den Vermissten gehört.«
NEUN
Die Kopfschmerzen der vergangenen Nacht waren verschwunden, doch die Kopfschmerzen des neuen Tages pochten bereits hinter Sevillas Augen und weckten in ihm den Wunsch, lange zu schlafen. Er verbarg die blutunterlaufenen Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille und trank Wasser aus einer Plastikflasche, sooft er auch nur ansatzweise ein Gefühl der Trockenheit im Mund verspürte.
Er parkte hundert Meter von der Bushaltestelle der
colonia
entfernt und sah in der gleißenden Sonne junge Frauen kommen und gehen. Einige Busse kamen aus der Stadt, die meisten jedoch von den
maquiladoras
selbst. Früher hatte auch Ana Sevilla so einen Bus genommen, als die Lichter noch vor Morgengrauen oder nach Sonnenuntergang gelöscht wurden, damit die Besitzer der Fabriken das bisschen Strom sparen konnten.
Der regelmäßige Busverkehr wirkte hypnotisierend; Sevilla hätte den ganzen Tag damit verbringen können, die An- und Abfahrt der Busse zu beobachten. Einmal sah er einen schwarzen Pick-up mit zwei Männern die unbefestigte Straße entlangkommen. Sie fuhren dicht an Sevillas Auto vorbei, und weg waren sie.
Sevilla suchte unter den Frauen nach Ella Arellano, aber sie war nicht zu sehen. Er musste wohl zu ihr gehen.
Sevilla hatte schon schlimmere
colonias
gesehen, manche so dicht bei den
maquilas,
dass nur eine Mauer dazwischen die eine Seite von der anderen trennte. Einmal hatte er eine
colonia
in der Baja besucht, die unmittelbar an dem hohen Sturmzaun lag, der Mexiko von den Vereinigten Staaten trennte. Dort blickten die Menschen aus den selbstgemachten Fenstern in ihren Pappkartons direkt ins gelobte Land.
Sevilla mochte
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