Die toten Frauen von Juárez
hohen Zaun und die Stacheldrahtrollen, die in der Sonne funkelten. Ein Schweißtropfen lief ihm ins Auge. Es brannte; er wischte ihn mit der Manschette ab.
»Ich habe gehört, er hat den Frauenmörder dazu gebracht, dass er gestanden hat«, sagte der ältere Polizist.
»Ja«, log Enrique. Er wollte aus dem Transporter aussteigen, obwohl der noch fuhr. Das Dach schien zu niedrig zu sein, die Türen zu weit nach innen gewölbt. Er wünschte, er säße näher bei dem Soldaten und dem offenen Fenster.
»Gut, gut. Wir können Witze reißen so viel wir wollen, aber er hat etwas Gutes bewirkt.
Feminicidios.
«
»Wenn du willst, kannst du ihm die Witze erzählen«, sagte einer der Polizisten. »Er versteht sie sowieso nicht.«
Die Männer lachten, doch die heitere Stimmung war dahin. Enrique lächelte kläglich. Er war froh, als der Transporter anhielt und er auf den heißen Asphalt aussteigen und von ihnen fortkonnte. Der ältere Polizist verabschiedete sich, doch Enrique lief ohne einen Gruß davon. Er fühlte sich kurzatmig, das Notizbuch drückte so fest auf seinen Körper, dass er keine Luft mehr bekam. Bei seinem Auto riss er das Buch aus dem Jackett und warf es auf den Beifahrersitz. Er legte die Hände auf das heiße Dachblech und achtete nicht auf die Schmerzen. Als er die Luft in vollen Zügen einatmete, flimmerte der Rand seines Gesichtsfeldes vor Hitze und Hyperventilation.
Der Anfall ging vorüber, Enrique stieg ein und startete den Motor. Er ließ den Gurt einrasten und zog ihn straff. Dann kniff er die Augen zu, bis das Flimmern aufhörte. Er schlug sie wieder auf. Mit den Händen berührte er das Lenkrad; die Klimaanlage summte, der Motor schnurrte im Leerlauf. Wenn er nach links oder rechts blickte, rechnete er damit, Garcia zu sehen, doch er war allein.
ACHT
Sie trafen sich lange nach Sonnenuntergang an der Hintertür von Sevillas Haus. Sevilla wusste, dass er nach Whisky roch, aber daran ließ sich nichts ändern. Enrique schien es nicht zu bemerken; oder er tat so.
»Kommen Sie rein«, sagte Sevilla. »Haben Sie das Tor zugemacht?«
»Ja.«
»Gut. Wenn man das Tor nicht zumacht, kommen Hunde in den Garten und scheißen überall hin.«
Sevilla bot Enrique etwas Kaltes zu trinken an, worauf sie die Routine eines normalen Besuchs durchspielten. Enrique hing das Jackett an einem Haken neben der Tür auf, setzte sich auf das Sofa und lehnte den Rücken an die Decke, die Liliana im ersten Jahr ihrer Ehe mit Sevilla genäht hatte. Sevilla nahm den Stuhl. Seinen Notizblock hatte er auf dem Beistelltisch liegen.
»Darf ich?«, fragte Sevilla und nahm Enrique das
cuaderno
ab.
»Es gehört Ihnen«, sagte Enrique.
Sie schwiegen, während Sevilla jede Seite mit seinem Notizblock abglich. Es dauerte lang. Sevilla entging nicht, wie Enrique seinen Blick durch das Zimmer schweifen ließ, und er maß den Grad von Enriques Nervosität daran, wie er immer wieder die Beine übereinanderschlug.
Als Sevilla fertig war, klappte er das Notizbuch zu. Er legte es neben Enrique auf die Couch. »Wann gehen Sie wieder zur Arbeit?«
»Morgen«, antwortete Enrique.
»Können Sie das Notizbuch dann zurückbringen?«
»Natürlich.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte Sevilla. Er sah einen Schatten über Enriques Gesicht huschen. »Sie müssen nach Estéban sehen. Er ist irgendwo im System und wird herumgereicht. Nicht einmal Señora Quintero weiß, wo er ist, zumindest tut sie so. Wir brauchen ihn an einem Ort, wo er unter Beobachtung steht.«
Enrique schüttelte den Kopf. »Die Befugnis besitze ich nicht. Wennich mich in seine Verlegung einmische, erfährt Captain Garcia davon. Dann stellt er mir Fragen, die ich nicht beantworten kann.«
»Dann finden Sie wenigstens heraus, wohin die ihn gebracht haben«, beharrte Sevilla. Er ließ sich in den Stuhl zurücksinken und rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. Der Whisky beruhigte seine Nerven nicht wie erwartet. Er fühlte sich müde, aber nicht ruhig genug, um zu schlafen. Er hatte Kopfschmerzen. »Wenigstens kann er noch reden.«
»Warum machen Sie das nicht?«
»Ich habe nichts mehr damit zu tun«, antwortete Sevilla. »La Bestia braucht mich nicht mehr. Kelly kannte mich, Kelly hätte vielleicht auf mich gehört.«
Schweigen senkte sich über das Wohnzimmer. Nur das Ticken der Uhr am Fenster erklang. Selbst vor dem Fenster, jenseits der Gitter und Gartenmauern, herrschte Stille.
»Sie haben ein hübsches Haus«, sagte Enrique nach einer Weile. »Wo
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