Die toten Frauen von Juárez
eng zusammengedrängt unter kalten Neonröhren standen. Es roch nach arbeitenden Männern, Kaffee und Staub.
Zuerst überprüfte er seinen Schreibtisch. Er räumte stets ordentlich auf. Im Terminkalender vermerkte er gewissenhaft Termine mit Uhrzeit und Personen. Das Abzeichen der Policía Municipal tanzte auf dem Monitor seines Computers. Ein paar Nachrichten auf rosa Notizzetteln steckten unter der Tastatur. Damit konnte er sich Zeit lassen.
Captain Garcias Büro lag am Ende des Pferchs, fern von Enrique. Normalerweise hatte ein Assistent ein Büro, das an das seines Vorgesetzten angrenzte, und wenigstens einen Bruchteil von den Annehmlichkeiten seines Herrn und Meisters, doch Garcia ließ Enrique bei den anderen, damit er beobachten und zuhören und Bericht erstatten konnte. Den größten Teil dessen, was er über den Mann hörte, den alle La Bestia nannten, verschwieg er Garcia allerdings.
Als er an Garcia dachte, sah Enrique unwillkürlich zum Arbeitsplatz des Mannes. Die Jalousien der Bürofenster waren heruntergelassen, der Schreibtisch verwaist. Garcia hatte einen Computer, den er so gut wie nie benutzte, außer um zu spielen oder im Internet zu surfen. In seinen Aktenschränken herrschte gähnende Leere. Seine Telefonate gingen ausnahmslos über Enrique, er hatte sich nie die Mühe gemacht, eine eigene Mailbox einzurichten. Für das alles hatte er gar keinen Bedarf, denn La Bestia war kein Ermittler. La Bestias Methode war Zwang.
Enrique verließ den Pferch. Ein paar Männer sagten hallo, doch die meisten wichen ihm aus. Das war der einzige Vorteil daran, dass er Garcia so nahestand.
Im Keller waren die Decken niedriger, die kühle Luft trockener. Freiliegende Adern von Kabeln und Rohren verliefen an den Wänden und an der Decke. Hin und wieder sprang ein Kompressor an und pumpte kühle Luft in irgendeinen Teil des großen Gebäudes. Man schien sich nicht im Herzen des Bauwerks aufzuhalten, sondern in dessen Eingeweiden.
Die Asservatenkammer befand sich hinter einer Barrikade aus Maschendraht. Hier stand kein Soldat Wache. Zwei uniformierte Frauen herrschten einsam und allein über zehn miteinander verbundene Räume, in denen Stahlregale in engen Reihen vom Boden bis zur Decke reichten. Los Tigres del Norte spielten leise im Radio, das Akkordeon polterte durch »La Puerta Negra«. Zwei Schlösser sicherten die schwere Metalltür. Die Öffnung über dem Empfangstresen maß bestenfalls fünfzig Zentimeter.
»Buenas tardes«,
sagte Enrique zu einer der Frauen. Eine war jung, die andere alt. Hier unten, fernab der Sonne, den Schießereien und dem Blutder Straßen, arbeiteten immer Frauen. In Amerika arbeiteten die Frauen Seite an Seite mit den Männern auf der Straße. Hier nicht.
»Buenas tardes«,
antwortete die ältere Frau. Sie kam zum Tresen.
»Ich brauche etwas«, sagte Enrique. Er füllte einen Antrag aus und schob ihn durch die Barriere. »Für Captain Garcia. Ich kenne aber die Beweisstücknummer nicht. Es handelt sich um ein rotes Notizbuch. Es müsste das einzige sein.«
Die alte Frau überflog das Dokument. Ihre Miene blieb ausdruckslos. »Gut«, sagte sie schließlich und gab es der jungen Frau. »Es dauert ein paar Minuten.«
»Ich kann warten«, sagte Enrique.
Sie hatten einander nichts zu sagen. Enrique stellte fest, dass er unter einer Reihe nackter Glühbirnen in dem leeren Raum auf und ab ging, und blieb stehen. Im Radio verstummten die Tigres und wichen Conjunto Primavera, die Tony Meléndez begleiteten, der von seiner ersten Liebe sang. Enrique hatte sich noch nie etwas aus
norteño
gemacht.
Als die junge Frau zurückkam, brachte sie das rote Notizbuch in einer beschrifteten Plastiktüte. Irgendwo nicht weit entfernt sprang ein Ventilator an und klapperte so laut, dass er das Radio übertönte. Enrique quittierte den Empfang mit Garcias Namen. Er musste die Stimme heben, um sich Gehör zu verschaffen.
»Gracias, Señoras.«
Er spürte, wie die Frauen ihm nachsahen, als er sich entfernte. Nur mit Anstrengung gelang es ihm, sich umzudrehen, ohne dass er sich die Plastiktüte an die Brust drückte. Auf der Treppe ließ er das Notizbuch im Jackett verschwinden. Es war so groß, dass es nicht in die Tasche passte, doch er verdeckte es mit seinem Arm. Sein Hemd war schweißnass.
Er spähte aus dem Treppenhaus in die Eingangshalle, ehe er sie betrat. Im Gebäude wurde es ruhiger. Die Männer waren essen gegangen, nach Hause oder zu einem örtlichen Treff, wo sich Polizisten mit
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