Die toten Frauen von Juárez
spricht Rafael Sevilla. Ich wollte mich nach einem Ihrer Ermittler erkundigen, Cornelio Jiminéz. Könnten Sie mir seine Nummer geben? Ich möchte ihm ein paar Fragen stellen. Sie würden mir damit einen Gefallen tun.
Gracias.
Bis bald.«
So gut wie niemand ließ sich auf der Straße blicken. Um diese Zeit wirkte die Stadt menschenleer. Nur die
maquiladoras
arbeiteten rund um die Uhr, ohne Pause. Dort gab es keine ruhigen, schattigen Plätzchen.
Er wollte Enrique anrufen, aber es war noch zu früh. Seine Gedanken schweiften noch weiter ab, zu den
colonias
und Ella Arellano. Auch dort würden die Bewohner schlafen.
»Verdammt.«
Sevilla schlug mit der Handfläche auf das Lenkrad. Er legte den Gang ein und fuhr los.
SIEBEN
Früher einmal war Enriques Polizeirevier eines von vielen Verwaltungsgebäuden in einer ganzen Gruppe ähnlicher Bauwerke nahe den Büros der
Procuraduría
gewesen. Weiße Backsteine, getönte Fensterscheiben, der Sonne wegen, versperrte Türen mit der Aufschrift ZUTRITT VERBOTEN und ein Kabuff aus Glas und Metall, so groß wie eine Telefonzelle, in dem ein einzelner Polizist Wachdienst leistete, Ausweise überprüfte und das elektrische Schloss manuell bediente.
Als das Sinaloa-Kartell in die Stadt gekommen war, hatte sich die Topographie der Landschaft verändert. An beiden Enden des Häuserblocks verengten nun schwere, X-förmige Skulpturen aus Stahl und überkreuzten T-Trägern den Verkehrsfluss auf eine einzige Fahrspur. Stacheldraht begrenzte die Bürgersteige. Anstelle eines einzelnen Uniformierten dirigierten eine Handvoll Bundespolizisten den Strom der Besucher durch die Barrikaden hinein und hinaus. Und weitere bewachten Enriques Gebäude, zwei davon in einem parkenden Jeep mit schwerem Maschinengewehraufbau.
Und man munkelte bereits, dass noch mehr Männer und Ausrüstung in die Stadt unterwegs seien, noch mehr Waffen und Fahrzeuge. Vor zwei Tagen hatte Enrique einen gepanzerten Mannschaftswagen durch das Viertel rund um die
Procuraduría
patrouillieren sehen. Verwaltungsgebäude wurden gegen Angriffe von außen und innen gesichert; uniformierte Beamte mit automatischen Waffen schritten durch die Flure, plauderten mit den örtlichen Polizisten und richteten sich gemütlich ein, als wollten sie hundert Jahre bleiben.
Enrique stellte das Auto einen Häuserblock entfernt auf einem mit Maschen- und Stacheldraht gesicherten Parkplatz ab. Drei weitere Männer warteten auf den weißen Transporter, der zwischen dem Parkplatz und dem Hauptgebäude verkehrte. Ein bewaffneter
federale
saß auf dem Beifahrersitz, das Fenster war trotz eingeschalteter Klimaanlage heruntergekurbelt, der Lauf seiner Waffe zeigte durch die Öffnung himmelwärts.
Er kannte die Männer nicht, die mitfuhren, und sie redeten nicht miteinander. Sie wurden nervös, genau wie Enrique, wann immer der Transporter ein anderes, langsames Fahrzeug passierte. Das Sinaloa-Kartell und dessen Gegner, Los Zetas, schlugen schnell zu, im Vorbeifahren, und setzten auf überwältigende Feuerkraft. Der Transporter war nicht gepanzert; Kugeln würden die Karosserie so mühelos durchschlagen wie Aluminiumwellblech. Im Mai vor zwei Jahren hatten die Sinaloa den Polizeichef niedergeschossen.
Der Transporter bremste vor dem Gebäude heftig ab. Alle vier Männer stiegen aus und gingen in unterschiedliche Richtungen. Enrique blieb einen Moment im Licht der lotrechten Sonne stehen. Ein Bundespolizist saß in dem Kabuff aus Metall und Glas. Den Gewehrkolben hatte er auf dem Stiefel abgestellt. Er nickte Enrique zu und winkte zur Tür.
»Ja«, sagte Enrique. Der Türsummer ertönte, er trat ein.
Wenigstens im Inneren herrschte, als einzige Überlebende der Drogenkriege, die normale Geräuschkulisse. Telefone läuteten, Gespräche wurden geführt, jemand lachte lauthals. Enrique hielt sich nicht mehr gern hier auf. Ein Blick aus dem Fenster zeigte in jeder Richtung eine Stadt unter Belagerung, die Stadt, die die
turistas
nicht sahen und nicht sehen wollten. Wenn das Golf-Kartell, die Sinaloa und die anderen Banden aufeinanderprallten, dann wurde mexikanisches Blut vergossen. Im Westen, in der Baja, kam es manchmal vor, dass Touristen erschossen oder entführt wurden, aber dort hatte man es dennoch mit einer domestizierten Form der Kriegführung zu tun;
el Paso del Norte
war zu kostbar, um es in Gefahr zu bringen.
Enrique stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf. Hier lag der offene Pferch, wo Schreibtische in Dreier- und Vierergruppen
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