Die toten Frauen von Juárez
Taille abwärts über ihn gelegt.
Kelly duschte und nahm ein Frühstück aus Bier und Eiern zu sich. Paloma hatte keine Nachricht hinterlassen, aber das machte sie nie. Später würde er sie anrufen, vielleicht den Bus nehmen und sie am Nachmittag mit
comida corrida
überraschen. Mexikaner aßen spät, genau wie Kelly. Bis dahin ging er spazieren.
Am Ende der langen Häuserzeile stand ein Telefonmast, etwa zurHälfte rosa gestrichen. Schwarze Kreuze aus Isolierband befanden sich daran; unter ihnen flatterte ein Wald von bunten Zetteln, sobald ein Lufthauch sich regte.
Kelly sah eine Frau, die gerade einen neuen Zettel befestigte. Bis er dort ankam, war sie schon wieder fort, doch er nahm sich die Zeit und las, was sie angebracht hatte. Er sah das fotokopierte Gesicht eines lächelnden Teenagers auf grünem Papier. Ihr Name war Rosalina Amelia Ernestina Flores. Sie schien zu jung, um zu arbeiten, doch das dachte nur der
Norteamericano
in Kelly; so etwas wie
zu jung, um zu arbeiten
gab es in Mexiko nicht. Rosalina fertigte in einer
maquiladora
Blinker für eine deutsche Autofirma. Sie wurde seit zwei Wochen vermisst. Auf dem Zettel stand:
Justicia para Rosalina!
Er hing über einer Unmenge weiterer Flugblätter, andere Mädchen, andere Gesichter. Zwei oder drei Schichten. Alle forderten
justicia:
Gerechtigkeit für Rosalina; Gerechtigkeit für Yessenia; Gerechtigkeit für Jovita. Es waren so viele, dass die Stadt einen eigenen Namen für sie hatte:
las mujeres muertas de Juárez.
Die toten Frauen von Juárez; denn sie waren mit Sicherheit alle fort, und zwar für immer.
»Excúseme, señor. Usted ha visto a mi hija?«
Kelly wandte sich von Rosalina und ihren Schwestern ab. Er sah die Frau wieder vor sich. Sie trug eine Handvoll Fotokopien auf grünem Papier. Sie sah auf die irreführende Weise alt aus, wie es bei der arbeitenden, bettelarmen Bevölkerung von Juárez häufig der Fall war; vermutlich war sie aber erst um die vierzig.
»Usted ha visto a mi hija?«,
wiederholte die Frau.
»No la he visto. Lo siento.«
Die Frau nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. Sie ging den Häuserblock entlang und blieb beim nächsten Telefonmast stehen. Dort würde der Zettel spätestens am Abend wieder abgerissen sein. Denn nur die Zettel an dem rosa gestrichenen Mast waren unantastbar.
FÜNF
Mujeres Sin Voces unterhielten ein kleines Büro im ersten Stock eines baufälligen Gebäudes, in dem auch eine Apotheke, ein Chiropraktiker und ein Tabakladen untergebracht waren. Helle Pastellfarbe blätterte von schmucklosen Betonwänden. Endlose sonnige Tage hatten alle Beschriftungen ausgebleicht. An einer Seite hatte sich das Fundament abgesenkt, wodurch das ganze Bauwerk schief wirkte.
Die Bürotür war rosa gestrichen und hatte drei Schlösser. In Hüfthöhe stand in eckigen schwarzen Buchstaben das Wort
justicia
geschrieben. Selbstklebende Zahlen wiesen die Tür aus, doch kein Schild oder Etikett verriet, wer die Bewohner waren.
Kelly klopfte einmal und trat ein. Zwei Schreibtische und ein Trio zerkratzter Aktenschränke füllten das kleine Zimmer fast vollständig aus. Im Hinterzimmer des Büros lagerten Farbe, Papier, Holz und Schilder. Einmal im Monat zogen sich die Mitglieder von Mujeres Sin Voces – Frauen ohne Stimmen – schwarz an und versammelten sich nahe der Paso del Norte International Bridge nach El Paso. Dort schritten sie mit Plakaten und Spruchbändern schweigend zwischen den Reihen der Autos dahin, deren Fahrer darauf warteten, dass sie in die Vereinigten Staaten zurückkehren konnten. Sie erinnerten die
turistas
daran, dass Frauen starben, während sie selbst nach Mexiko kamen, um Partys zu feiern.
Paloma hatte den Schreibtisch am einzigen Fenster des Büros. Sie war viermal pro Woche hier, manchmal allein, manchmal mit anderen Mitgliedern der Gruppe. Wenn Mujeres Sin Voces marschierten, marschierte sie mit. Ein staubiger Ventilator drehte sich in einem Kasten am Fenster und wirbelte die warme Luft durcheinander. Die Gruppe besaß einen internetfähigen Computer aus zweiter Hand und eine klobige, hässliche IBM-Selectric-Schreibmaschine, die mit dem golfballähnlichen Kugelkopf. Ella Arellano war die Sekretärin der Gruppe, obwohl sie nur im Zwei-Finger-System tippen konnte.
Die Frauen blickten auf, als Kelly eintrat. Ella war schlanker und einpaar Jahre jünger als Paloma. Ihre Schwester gehörte zu den toten Frauen von Juárez und wurde seit mittlerweile zehn Jahren vermisst. Sie lächelte
Weitere Kostenlose Bücher