Die toten Frauen von Juárez
aber es gab kaum Schatten dort, und außerdem fühlte er sich hier wohl.
Estéban fuhr fort. »Wenn ich dich sehe, sehe ich einen guten Kerl. Paloma liebt dich. Aber du weißt ja, wie einige
vieja gente
auf weiße Jungs reagieren. Und meine Schwester ist
una mujer fina;
sie verdient nur das Beste.«
»Ich weiß«, sagte Kelly, der schon Bescheid wusste, bevor Estéban es ihm erklärt hatte. Er überlegte sich, warum er überhaupt gefragt hatte, wo er doch wusste, dass er sich nach der Antwort mies fühlen würde. Plötzlich lagen ihm die
tamales
schwer im Magen.
»Vielleicht nächstes Mal«, sagte Estéban.
»Nächstes Mal. Klar«, antwortete Kelly. Es war, als würde er alles noch einmal mit Paloma ausdiskutieren. Er stand auf und streckte sich, legte dieHände jedoch auf den Querbalken aus Holz, nicht auf das Wellblechdach des Baldachins; das Metall war so heiß, dass es ihm die Haut verbrannt hätte.
»Ich sag dir was«, fuhr Estéban fort, als sich das Schweigen zu sehr in die Länge zog, »du solltest diesen jungen
boxeadores
nicht mehr dein Gesicht hinhalten. Bist du nicht schon hässlich genug?«
»Muss ich jetzt auch noch
hübsch
sein?«
»Nein, aber keiner respektiert dich, wenn du aussiehst, als wärst du von einem Lastwagen angefahren worden. Mir ist unbegreiflich, wie Paloma dich ansehen kann. Ich würde niemanden küssen, der so aussieht wie du. Die Leute reden, Mann. Sie nennen dich ›Frankenstein‹.«
»Das ist witzig. Was für Leute?«
»Es ist kein Witz. Leute eben. Paloma genießt
respecto.
Mehr als du oder ich.«
Kelly nickte, sagte aber nichts. Er trank die Flasche leer und tastete im schmelzenden Eis der Kühlbox nach einer neuen. Als er sich vorbeugte, spürte er den Alkohol, ein gutes Gefühl von Müdigkeit und Albernheit, das starkes
motivosa
im Handumdrehen herbeiführen konnte. So gefiel es ihm.
»Aber ich verrate dir eines«, sagte Estéban, »wenn ihr zwei heiratet, behandelt euch an eurem Hochzeitstag keiner respektlos, ganz gleich, was man sonst so redet. So läuft das bei uns nicht.«
»Du nimmst mich nicht mit zur Hochzeit einer Cousine, aber ich kann dein
cuñado
sein?«, fragte Kelly.
»Nein, nein, hör zu: Das öffnet ihnen die Augen. Wenn du einen weißen Anzug anziehst und im Angesicht Gottes den Segen des Padre bekommst, dann bist du so braun wie mein Hintern«, sagte Estéban.
»Das ist verdammt braun«, antwortete Kelly. Er setzte sich wieder.
»Fick dich ins Knie, Mann«, sagte Estéban ohne Boshaftigkeit.
»Ja, fick mich ins Knie«, antwortete Kelly.
SIEBEN
Er erwachte vor Sonnenaufgang, blieb in der Dunkelheit im Bett liegen und dachte an alles Mögliche. Wenn er sonst so früh aufwachte, schlich er normalerweise herum, ohne Licht zu machen, und rauchte eine Zigarette oder etwas Stärkeres, bis der Tag richtig begann. Als er jetzt aufstand, wusch er sich das Gesicht und putzte sich die Zähne. Er betrachtete sich im Spiegel. »Frankenstein«, sagte er laut.
Kelly zog ein Sweatshirt an und ging hinaus.
In Mexiko ist es heiß; die Grenzregion bildet da keine Ausnahme, aber Ciudad Juárez ist eine Stadt in der Wüste, und in denen wird es nachts ausgesprochen kalt, ganz gleich, zu welcher Jahreszeit. Die schmutzigen Abgase der
maquiladoras
hielten Hitze und Staub dicht am Boden, aber nicht einmal Dutzende Fabrikschlote kamen gegen die Kräfte der Natur an. Kelly sah seinen Atem in der Luft kondensieren.
Wenn er sich streckte, taten ihm Beine und Rücken weh, aber nicht so sehr, dass er mit dem hätte aufhören wollen … was immer er gerade machte. Seine Waden fühlten sich besonders verkrampft an. Er hatte zwar Muskeln vom Laufen, aber er war nicht sonderlich beweglich. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er es das letzte Mal geschafft hatte, die Zehen zu berühren, ohne die Knie zu beugen.
Lichter brannten, Leute tummelten sich auf der Straße. Viele Frauen waren gemeinsam unterwegs, da sie Gesellschaft suchten, aber auch zur eigenen Sicherheit. Manche trugen einen Mundschutz, Nachhall der Vorsorgemaßnahmen gegen die Schweinegrippe. Ab und zu rumpelte der Bus einer
maquiladora
die Hauptstraße entlang, die Kellys Viertel durchschnitt. In den Staaten wären diese Busse beleuchtet gewesen, aber das war Mexiko, wo jeder Penny zweimal umgedreht wurde, und so saßen die Fahrgäste im Dunkeln.
Kelly sog die Luft in vollen Zügen durch die geschundene, aber heilende Nase und blies sie durch den Mund wieder hinaus. Das machte er zweimal, dann stieg ein
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