Die toten Frauen von Juárez
und das ist gut, aber es ist … mach dir deswegen keine Gedanken.«
Ein Schatten glitt über Palomas Gesichtszüge, und Kelly wurde klar, dass er die ganze Zeit da gewesen war, er hatte ihn nur nicht gesehen. Sie schien abgelenkt zu sein, aber nicht wegen des Essens oder wegen seines Zustands. Er wurde wieder wütend auf das Büro und die vielen Flugblätter; er wollte, dass Paloma unbeschwert und fröhlich war.
»Ich habe an Mazatlán gedacht«, sagte Kelly. »Vielleicht können wir nächsten Monat zusammen dorthin fahren. Uns ein Zimmer in dem Hotel am Strand nehmen. Erinnerst du dich daran? Das mit den Swimmingpools direkt beim Restaurant?«
Paloma streckte den Arm über den Tisch aus und hielt Kellys Hand. Kelly bildete sich ein, dass er die Dunkelheit in ihrer Berührung spüren könnte. »Ich erinnere mich«, sagte sie.
»Es muss ja nicht so lang sein. Nur zwei Tage, wenn du willst.«
»Das würde ich gerne.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Schön.«
Die kleine, dicke Frau kam mit dem Hauptgang an ihren Tisch.
Comida corrida
hieß nicht umsonst »große Mahlzeit«. Paloma entzog Kelly die Hand; die restliche Zeit waren sie mehr mit Essen als mit Reden beschäftigt.
SECHS
Estéban kam schon früh vorbei; er fuhr einen staubigen weißen Laster mit Pritsche. Kelly nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und sie tranken schon kaltes Tecate, ehe sie ihr Ziel erreichten.
Kelly wusste nicht, wer auf die Idee gekommen war, einen großen Skaterpark in Ciudad Juárez zu bauen, aber jemand hatte ihn gebaut, und die Skater kamen. Es handelte sich um ein weitläufiges, offenes Areal am Stadtrand, das aussah wie eine Mondlandschaft voller Betonkrater. Im Zentrum erhob sich ein massiver Turm, der inmitten eines Gerüsts aus Metall und Holzstufen knapp zwanzig Meter in die Höhe ragte. Den ganzen Tag lang stiegen Kletterer auf der einen Seite hinauf, während andere in einem Widerhall von klirrenden Skateboards und Gebrüll auf der anderen hinuntersausten.
Der weiße Beton blendete und reflektierte die Hitze. Am Nachmittag war Parque Xtremo unerträglich heiß. In den Halfpipes und auf den Skaterampen verlor man Pfunde schon allein durchs Schwitzen.
Weder Kelly noch Estéban skateten, aber dies war der Ort, wo sie immer tranken. Die Politiker, die anlässlich der feierlichen Eröffnung des Parks gekommen waren, hatten eine Menge über Gesundheit und Sicherheit zu sagen gehabt, und dass man die Kinder vor Drogen beschützen müsse, aber das Aroma von
motivosa
war hier genauso an der Tagesordnung wie der Geruch von Schweiß. Skater aus den USA kamen hierher, um ihr Können vorzuführen und sich gleichzeitig was reinzupfeifen. Manchmal dealten Kelly und Estéban hier auch.
Sie kauften an einer Imbissbude
tamales,
gefüllte Teigtaschen, setzten sich unter einen Baldachin aus Blech und sahen einem Trio mexikanischer Jungs zu, die mit ihren BMX-Rädern eine zweieinhalb Meter hohe Skaterampe hinauffuhren. Die Kids schossen über den oberen Rand hinaus in die Luft, krachten vorwärts wieder nach unten und begannen den nächsten Anlauf. Kelly gefiel das kratzende Surren der Reifen auf dem Beton, nicht aber das Klirren, wenn das Metall wieder festen Boden berührte.
Das ging ihm durch Mark und Bein und erinnerte ihn an etwas anderes, das er lieber vergessen würde. Insgeheim fragte sich Kelly manchmal, ob er nur hierherkam, um sich daran erinnern zu lassen.
Die
tamales
waren gut: würzig und sättigend. Kelly und Estéban aßen mit den Fingern und drückten die Teigtaschen aus den Maisblättern, in die sie eingewickelt waren. Manche Leute gossen gern Soße darüber, aber Kelly bevorzugte seine
tamales
pur, und Estéban teilte seinen Geschmack in fast allem, dies eingeschlossen.
Sie aßen sich satt und tranken noch mehr Bier. Die BMX-Jungs zogen weiter. Kelly und Estéban betrachteten die verlassene Skaterampe. »Warum hast du Paloma gesagt, dass ich nicht mit nach Mazatlán kommen wolle?«, fragte Kelly schließlich.
»Du weißt, warum.«
»Nein, sonst würde ich nicht fragen«, sagte Kelly und sah Estéban an.
»He, mach mir keine Schuldgefühle, Mann. Du weißt, wie gern ich dich habe. Aber
nuestra familia,
die haben einige – wie soll ich mich ausdrücken? –, die haben einige altmodische Ansichten.«
Kelly wandte sich ab. Er sah zur nächsten Rampe, wo eine Gruppe Skateboarder, Mexikaner und Weiße, einander an steilen Betonwänden Kunststücke vorführten. Er überlegte, ob er aufstehen und näher herangehen sollte,
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