Die toten Frauen von Juárez
Kelly an. Sie sprach kein Englisch.
»Buenos días«,
sagte Kelly zu ihr.
»
Buenos días,
Señor Kelly«, antwortete Ella.
»Was machst du hier?«, wandte sich Paloma an Kelly.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht was essen gehen.«
»Ich bin gerade beschäftigt; nächsten Monat kommt der Präsident. Wir müssen uns vorbereiten.«
Die Wände des Büros waren, wie der rosa Telefonmast, von mehreren Schichten Flugblättern bedeckt, die allesamt
justicia, justicia, justicia
einforderten. Traditionell bezeichnete man vermisste Frauen niemals als
tot,
aber das diente nur dazu, den Glauben nicht zu verlieren. Manchmal hielt man die Scharade selbst dann noch aufrecht, wenn die Leichen gefunden worden waren. Etwas daran ärgerte Kelly, aber er hätte nicht zu sagen gewusst, was.
»Nur eine Stunde«, sagte Kelly. Er hörte sich verärgerter an als beabsichtigt, und durch die geschwollene Nase klang seine Stimme noch eine Tonlage höher.
Paloma sah ihn stirnrunzelnd an. »
Tú tendrá todo razón sin mí,
Ella?«
»Ich komme zurecht.«
»Eine Stunde«, sagte Paloma streng zu Kelly.
Sie nahm ihre Handtasche. Gemeinsam verließen sie das Büro. Draußen in der Sonne sah Kelly, dass sie sich dunkelrote Strähnchen ins Haar gemacht hatte. Sie trug einen hellgelben Pullover, der bei ihrer Hautfarbe geradezu strahlte. Kelly wurde klar, dass er sie liebte, doch das konnte er ihr nicht sagen; Paloma würde es nicht wollen.
»Du solltest anrufen, bevor du herkommst«, sagte Paloma. »Das weißt du doch.«
Sie gingen den Häuserblock entlang zu einem Restaurant, das bei den Einheimischen sehr beliebt war. Das Lokal und das Viertel lagen so weit abseits, dass sie kaum Touristen anlockten.
Es war brechend voll, doch sie fanden ein Plätzchen draußen im Halbschatten, wo sie sich Tisch und Bänke mit vier Straßenarbeitern teilten,die Schutzkleidung und Helme trugen. Sie unterhielten sich hastig auf Spanisch miteinander. Kelly und Paloma sprachen Englisch.
»Ich wollte dich überraschen«, sagte Kelly.
»Ich weiß.«
»Tut mir leid«, sagte Kelly, aber das stimmte nicht.
»Ich weiß. Vergiss es.«
Eine kleine, gedrungene Frau brachte ihnen Teller mit
pozole.
Die Mexikaner kannten eine Menge unterschiedliche Rezepte, um das Zeug zuzubereiten, aber die Grundlage war immer Maismehl. Dieser Koch machte sein
pozole
mit Schweinsfüßen, Avocadoscheiben und rohen Zwiebeln und garnierte es mit Chilis. Eine Limettenscheibe wirkte lindernd, wenn es zu scharf gewürzt war.
Sie aßen eine Weile schweigend. Die Männer am Tisch schienen die Spannung zu bemerken und gingen, so schnell sie konnten. Niemand nahm ihre Plätze ein, obwohl ein enormer Andrang in dem Restaurant herrschte.
»Heute siehst du besser aus«, sagte Paloma schließlich zu Kelly.
»Ach ja?«
»Ja. Aber deine Nase heilt nicht richtig. Das sehe ich.«
Kelly unterdrückte den Impuls, sein Gesicht zu berühren. Er zuckte mit den Schultern. »Die war sowieso schon versaut.«
Paloma seufzte und schüttelte den Kopf. Kelly musste nicht fragen, was sie dachte; sie hatten deswegen schon oft genug gestritten.
Die leeren Teller wurden gegen Tortillasuppe ausgetauscht. Wärme und Gewürze von Suppe und
pozole
hatten zur Folge, dass Kellys Nase lief, und er spürte, wie seine geschwollenen Stirnhöhlen frei wurden. Ein Essen wie dieses war gut für den Bauch und förderte die Heilung. Es war ein Vergnügen, Paloma beim Essen zuzusehen, denn sie griff herzhaft zu, aber trotzdem wie eine Frau. Genau wie im Bett.
»Estéban will wissen, was du morgen Abend machst«, sagte Paloma.
»Da muss ich in meinen Terminkalender sehen.«
»Lass den Blödsinn.«
»Okay, ich habe nichts vor. Worum geht es?«
»Trinken.
Hierba
rauchen. Worum sonst?«
»Gras bringt Geld in die Kasse«, sagte Kelly. Er wischte sich die Lippen mit der Serviette ab. Seine Nase pochte wieder, aber es war der gute Schmerz, den er immer dann spürte, wenn die Schwellungen zurückgingen; er hatte das schon oft genug durchgemacht und wusste Bescheid.
»Er sollte es verkaufen, nicht rauchen.«
»Ich werde es ihm sagen.«
»Ich sagte, lass den Blödsinn.«
Kelly aß die Suppe auf. Er wechselte das Thema. »Ich habe heute ein neues Flugblatt gesehen.«
»Rosalina?«, fragte Paloma.
»Du weißt von ihr?«
»Wir haben davon gehört.«
»Glaubst du …?«
»Kelly«, unterbrach Paloma ihn, »du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.«
»Ich versuche nur, Interesse zu zeigen.«
»Ich weiß,
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