Die toten Mädchen von Villette
Simone erklären, daß er ihr einziger treuer Freund war, und sie würden endlich vereint werden.Martine drückte ihren Kopf an Tatias und lächelte, als ob sie vor der Kamera posierte, genau wie sie es getan hatten, als sie sich am Morgen im Spiegel betrachtet hatten. Sie drehte den Kopf, so daß ihre Lippen das Ohr des Mädchen berührten, und flüsterte so leise, daß nur Tatia es hören konnte:
– Mach dich klein, wenn ich lauter spreche, kriech zur Treppe und roll runter, wenn es sein muß, Hilfe ist unterwegs.
Sie drückte Tatias Arm aufmunternd, während sie gleichzeitig den Blick Jacques Martin zuwandte und mit lauter, falscher Stimme sagte:
– Ich weiß nicht, wo Sophie abgeblieben ist, vielleicht ist es am besten, wir gehen runter und suchen sie, anstatt hier nur rumzustehen!
Aber Tatia war zu verschreckt, um schnell genug zu reagieren, und Jacques Martin stürzte auf sie zu, gerade als sie im Begriff war hinunterzugleiten. Er packte ihre Haare und versuchte mit einem brutalen Ruck, sie wieder zur Luke in der Mauer hochzuzerren. Tatia schrie herzzerreißend. Martine warf sich nach vorn und schaffte es, dem Fotografen einen Ellenbogen in die Rippen zu drücken, während sie gleichzeitig versuchte, ihn mit den Knien in den Schritt zu treffen. Die Augen, dachte sie, man muß ihnen die Finger in die Augen drücken, aber sie brachte es nicht über sich.
Aber jetzt war es ihm gelungen, Tatia auf gleiche Höhe mit der Mauer zu bekommen, und seine langen Finger schlossen sich hart um den Hals des Mädchens. Martine biß ihn in den Arm, so fest sie konnte, sie spürte unter ihren Zähnen Haut aufspringen und den salzigen Geschmack von Blut auf der Zunge, und sein Griff lockerte sich, aber nur für einen Augenblick, er war so adrenalingeladen, daß die Schmerzsignale sein Gehirn nicht erreichten.
Da kam Bernadette, eine erzürnte Löwin in Gestalt einer flämischen Hausfrau. Sie war die hintere Mauer entlanggekrochen, hatte sich am Boden gehalten, damit er sie nicht bemerkte, und jetzt stand sie auf und faßte ihm um den Leib, während sie ihm gleichzeitig von hinten ein kräftiges Knie in den Schritt drückte und ihr ganzes Gewicht benutzte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Martine biß ihn wieder, und als er den Griff um Tatia lockerte, senkte sie den Kopf und rammte ihm damit direkt über Bernadettes beringten Fingern in die Magengrube. Zusammen schafften sie es, ihn zu Boden zu drücken und sich auf ihn zu setzen.
– Du läßt meine Tochter in Ruhe, du Schwein, keuchte Bernadette.
In diesem Augenblick kam Tony die Mauer entlang angelaufen, und gleichzeitig hörte man das Geräusch von Sirenen auf der Auffahrt zur Zitadelle.
Philippe lehnte sich zurück und sah gedankenvoll Tatia an, die zwischen ihm und Bernadette am Kaffeetisch saß, wohin sie ihre Zuflucht genommen hatten, während die Polizei ihre Arbeit tat, und sie auf einen Arzt warteten, der Tatia untersuchen sollte. Blauweißes Absperrband flatterte von der Mauer, Jacques Martin war in eines der Polizeiautos abgeführt worden, fügsam und still, als habe er noch nicht ganz begriffen, was passiert war. Martine hatte den Journalisten, die der Polizeifunk und Besucher zur Zitadelle hinaufgelockt hatten, ein paar rasche Kommentare gegeben und eine Pressekonferenz in ein paar Stunden versprochen. Jetzt saß sie am Tisch, die Füße in einer Wanne mit warmem Wasser, die die wohlwollende Wirtin des Cafés angeschleppt hatte.
Philippe dachte selbstironisch, daß er im entscheidenden Augenblick eine peinlich schlechte Figur gemacht hatte. Während sich Bernadette mit dem Mörder geschlagen und ihrer gemeinsamen Tochter das Leben gerettet hatte, hatte er es hingekriegt, die falsche Treppe zu wählen und von einem Netzzaun, der die Mauer an einer verwitterten Stelle absperrte, aufgehalten zu werden. Durch den Zaun hatte er hilflos Martines und Bernadettes Kampf mit dem Fotografen gesehen, ohne ihnen zu Hilfe kommen zu können. Aber Bernadette, die flämische Matrone, hatte bewiesen, daß sie Auto fahren und sich schlagen konnte wie ein ganzer Mann. Sie hatte wohl recht damit, daß er sie unterschätzt hatte, dachte er. Aber jedenfalls war er es gewesen, der Jacques Martin alias Roger de Wachter auf die Spur gekommen war, und ohne diesen Einsatz wäre Bernadette nicht an Ort und Stelle gewesen, um Tatia zu retten.
Er dachte zurück an seine Suche nach Roger de Wachter und der Wahrheit darüber, wer Renée und Simone verraten hatte. Es war eine
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