Die Toten Vom Karst
wie er als junger Arzt all die Leichen anschauen mußte, die man umständlich aus den Foibe geborgen hatte, den Spalten, die bis zu dreihundert Meter tief in das poröse Karstgestein abfallen. Gewiß hatten schon Faschisten, Gestapo und SS, Partisanen und später vor allem die Soldaten der Tito-Armee hatten auf brutalste Art und Weise ihre Opfer dort hinabbefördert – von den Leichen des Ersten Weltkriegs und den normalen Mordfällen ganz abgesehen.
Gestern, so berichtete der Artikel, fand sich eine Gruppe slowenischer Aktivisten unter Leitung eines Historikprofessors an der Foiba von Basovizza ein. Sie wollten durch eine kleine Öffnung am Rande der mächtigen Steinplatte, mit der man den Abgrund einst verschlossen hatte, eine Sonde hinablassen. Der Professor forderte die Öffnung und die genaue Untersuchung des 240 Meter tiefen Schlunds. › Es handelt sich hier um nichts anderes als eine Verteufelung der Slawen. Der Abgrund ist leer! ‹ behauptete einer der Aktivisten.
Zur gleichen Zeit hatte sich, kaum sechs Meter entfernt, eine Gruppe militanter italienischer Faschisten aufgebaut. Sie wurden begleitet von dem italienischen Priester einer französischen Bruderschaft, der angeblich auf Weisung des Bischofs Lefèbvre geschickt worden war. Sie entrollten die Fahne der › Repubblica sociale ‹ mit dem Adlerkopf und dem › Fascio ‹ , den Emblemen der Faschisten, und der Priester redete mit provozierend lauter Stimme: › Wir fordern Respekt vor den Opfern der Foibe! Es ist ein Zeichen göttlicher Vorsehung, daß wir rechtzeitig hierher gekommen sind, da versucht wird, die Erinnerung an unsere Toten in den Dreck zu ziehen. ‹ Dann öffnete er seine Bibel und sprach ein kurzes Gebet, breitete die Arme aus und gab den Segen. Die anderen bekreuzigten sich. Währenddessen unterhielt sich der Professor mit den anwesenden Carabinieri, die ihn daran hinderten, die Sonde hinabzulassen, und die Journalisten vom slowenischen Fernsehen versuchten, die Rechtsextremisten zu interviewen. Aber auch sie kamen nicht weiter, weil keiner den Mut hatte, sich vor laufender Kamera zu äußern. Die Faschisten zogen schließlich ab. Doch als der Geistliche in seinen Wagen stieg, wendete er sich noch einmal um, deutete auf seinen Talar und sagte: › Dies ist ein schwarzes Hemd, das lediglich ein bißchen zu lang geraten ist. ‹ Der slowenisch-nationalistische Historiker setzte indessen unbeirrt seinen Vortrag fort. Wenig später kam eine Gruppe älterer Radfahrer hinzu, die seine Thesen hörten und sogleich eine lautstarke Diskussion mit den slawischen Aktivisten begannen, der es von beiden Seiten an Härte nicht fehlte: Gesetze zur Unterdrückung der slowenischen Minderheit, Rassenpolitik der Faschisten, Tito-kommunistische Folterknechte, Staatspräsidenten, die am Mahnmal niederknieten, Reparationsforderungen, Verantwortung der Regierenden gegenüber den Opfern der Foiba von Basovizza und aller Foibe in Italien und Istrien. Die Beamten der Antiterroreinheit mußten auch während dieser Begegnung nicht einschreiten.
»Triest ist ein Irrenhaus!« brummte Laurenti und schüttelte den Kopf. Irgendwann einmal würde er sich doch intensiver mit dem Phänomen der Foibe beschäftigen müssen. Er wollte sich ein paar Bücher besorgen und jemanden in der Stadt auftreiben, der unpolemisch mit der Sache umging und die Hintergründe aufhellen konnte. Er schob das düstere Thema schon lange vor sich her, wie die meisten Triestiner, die einen großen Bogen um die schwarzen Abgründe machten.
Laurenti legte die Zeitung beiseite, winkte dem Kellner und zahlte. Er wollte sehen, ob er den alten Galvano erwischte. An einem Sonntag wie diesem, da sich wegen der durch die Straßen pfeifenden Bora kaum jemand hinaustraute, würde er wohl zu Hause sitzen und für einen Besuch sogar dankbar sein. Doktor Galvano hatte damals nach seiner Pensionierung das Gerichtsmedizinische Institut einfach nicht verlassen und mußte daraufhin wieder vereidigt werden, damit seine Gutachten anerkannt wurden. Galvano sollte ihm von den Foibe erzählen, und außerdem hoffte Laurenti insgeheim, auch über seinen Kummer sprechen zu können. Die Ansichten des alten Mannes und seine Einstellung zum Leben hatte er immer geschätzt. Vielleicht könnte er ihn zu einem Mittagessen überreden. Laurenti spürte wieder seinen Magen. Huhn mit Reis bei einem der Chinesen, die von der Razzia verschont geblieben waren, würden ihm sicher gut tun.
Der Schnee fegte immer dichter
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