Die Toten Von Jericho
etwas versteht. Und der Vorschlag, ihn einzuladen, kam von Anne. Sie hat früher mal bei ihm gearbeitet, und es bestanden wohl noch immer irgendwelche Kontakte … Der ganze Abend geht jedenfalls auf ihre Initiative zurück, und sie hat auch an der Organisation maßgeblichen Anteil gehabt. Ist übrigens alles gut gelaufen, nicht wahr? Der Mann ist ja aber auch ein glänzender Redner und versteht es, sein Publikum zu packen. Er besitzt eben Dynamik. Das sieht man ja auch daran, wie erfolgreich er seinen Verlag führt. Wenn man sich vorstellt – er hat vor ein paar Jahren mit nichts angefangen, na, und inzwischen fährt er, wie ich vorhin gesehen habe, einen hellblauen Rolls-Royce. Ein wirklich interessanter Mann. Schade, daß wir keine bessere Beteiligung hatten. Wer heute abend nicht da war, hat wirklich etwas verpaßt. Aber die Leute müssen selber wissen, was ihnen wichtig ist. Zum Teil liegt es natürlich sicher auch an der kurzfristigen Terminverlegung …«
Morse nickte zu allem mechanisch, ohne noch zuzuhören. Ihm war eben blitzartig eine Erleuchtung gekommen, deren Implikationen zu verarbeiten ihn voll und ganz in Anspruch nahm. ›… und inzwischen fährt er einen hellblauen Rolls-Royce.‹ Da hatte es auf einmal geklickt. Am Nachmittag des 3. Oktober, als er Anne hatte besuchen wollen, hatte eine Ecke vor Canal Reach an der Victor Street ein hellblauer Rolls gestanden – im Halteverbot. Er erinnerte sich an den Strafzettel, der unter dem Scheibenwischer geklemmt hatte – das Werk der pflichteifrigen jungen Politesse. Er mußte unwillkürlich lächeln, wurde aber schnell wieder ernst. Anne hatte ihm auf der Party von Mrs Murdoch von ihrer Tätigkeit bei einem Verlag erzählt und dabei erwähnt, daß, als die Firma langsam angefangen habe zu florieren, in schneller Folge zwei Rolls-Royce angeschafft worden seien – erst ein schwarzer, dann ein hellblauer. Die Luxuslimousine war ihm an dem Nachmittag – gerade auch in der eher ärmlichen Umgebung – schon aufgefallen, aber er hatte sie nicht mit Anne Scott in Verbindung gebracht. Später – nach ihrem Tod – hatte er tagelang das dunkle Gefühl gehabt, sich an irgend etwas erinnern zu sollen, was sie ihm gesagt hatte, aber er war, trotz allen Grübelns, nicht darauf gekommen. Jetzt endlich wußte er es wieder, und soviel war nun klar: der hellblaue Rolls-Royce, der Ecke Victor Street im Halteverbot gestanden hatte, gehörte Charles Richards, und das hieß, daß er sich am 3. Oktober, dem Tag ihres Todes, in Jericho aufgehalten hatte, und zwar keine drei Minuten von ihrem Haus entfernt. Anne und er hatten sich also offenbar auch nach Annes Weggang nicht ganz aus den Augen verloren. Wie hatte der Vorsitzende vorhin gesagt? ›Es bestanden wohl noch irgendwelche Kontakte …‹ Offensichtlich.
Plötzlich zuckte er zusammen. Draußen auf der Straße fuhr mit heulender Sirene erst eine Ambulanz, dann ein Polizeiauto vorbei. In einer Art déja acouté durchfuhr ihn der Gedanke: Wieder ein Unglück in Jericho!
Er lief die Treppe hinunter ins Foyer, steckte ein Fünfpencestück in den Fernsprechautomaten, wählte die Nummer des Präsidiums und fragte nach Bell. Bell war nicht im Haus, und der diensthabende Sergeant konnte ihm nicht sagen, wo er sich im Moment aufhielt. Er war vermutlich schon unterwegs nach Jericho. Ein Mord.
»Geben Sie mir die Adresse, Sergeant, schnell.«
»Einen Moment. Hier … Canal Reach, das ist eine Seitenstraße der …«
Aber Morse hatte schon aufgelegt.
»Etwa schon wieder ein Vortrag im Clarendon Institute, Sir?« fragte Walters und konnte ein Grinsen nicht ganz unterdrücken.
Morse tat so, als habe er die Frage nicht gehört. »Was ist passiert?«
»Jackson ist tot, Sir.« Walters deutete mit dem Daumen zur Decke. »Er liegt oben. Wollen Sie raufgehen und ihn sich anschauen? Er ist allerdings kein hübscher Anblick – man hat ihn übel zugerichtet.«
»Ist Bell schon da?«
»Nein, aber er müßte eigentlich bald hier sein. Er hatte in Banbury zu tun, aber wir haben ihn, nachdem wir den Anruf erhalten hatten, zu erreichen versucht, und er weiß inzwischen Bescheid.«
»Ein Anruf? Von wem?«
»Anonym, Sir.«
»Um wieviel Uhr?«
»Ungefähr Viertel nach neun.«
»Um Viertel nach neun schon? Das kann doch wohl nicht ganz stimmen.«
»Ich fürchte doch, Sir. Sie können, wenn Sie wollen, nachfragen, der Wachhabende hat sicher die genaue Uhrzeit notiert. Der Punkt ist, daß der Anrufer sich nicht so ganz klar
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