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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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Uferbefestigung wuchs, blieb er stehen, umfasste ihren Stamm mit beiden Händen und murmelte bewundernd: »Du bist aber groß geworden seit damals.« Dann ging er wieder zurück zur Wasserkante. »Genau hier war es. Hier haben wir oft zusammen geangelt.«
    Luzie brauchte nicht zu fragen, wen er meinte. Sie wusste es. Sie hielt die Luft an. Franco schien ihr etwas zeigen zu wollen. Sie musste nur warten.
    »Hier waren wir auch an dem Morgen, als es passierte. Es kommt mir vor wie gestern. Ist das wirklich schon so lange her?« Er schlug die Stirn in Falten und sah schrecklich unglücklich aus.
    »Zwanzig Jahre«, sagte Luzie. Es war offensichtlich, dass Franco Fusco ziemlich neben der Spur war. Er wirkte verwirrt. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
    »So lange ist das schon her«, staunte er. »Wie die Zeit vergeht. Wir haben hier gestanden und …«
    »Ist er … ist das hier die Stelle, wo …?«, fragte Luzie.
    Franco Fusco nickte andächtig. »Hier ist es. Hier ist er aufgebrochen zu seiner großen Reise. Wie oft habe ich mir gewünscht, er hätte mich mitgenommen, ich war doch da, direkt neben ihm, aber leider hatte ich nur ein einziges Ticket besorgt …«
    Und Franco Fusco begann zu reden, als hätte er in seinem Innern auf einen Knopf gedrückt und eine Schallplatte in Gang gesetzt, eine Schallplatte mit einer einzigen langen Rille, und man durfte nicht eingreifen und unterbrechen, sonst würde sie nie zu Ende durchlaufen können. Luzie musste warten und sich anhören, was es anzuhören gab, auch wenn sie nicht alles verstand.
    Wie eine Litanei, dachte Luzie erneut, Franco redete, sprach, betete, sang, in einer fast gleichbleibenden Tonlage ohne Höhen oder Tiefen, ohne Pausen oder hörbare Satzzeichen …
    Antonio habe ihm nie geschrieben, keine einzige Postkarte in all den Jahren von dieser langen Reise, ein treuloser Freund. Aber dann sei eines Tages sie aufgetaucht, Luzie, die Tochter seines Freundes, ganz plötzlich, ohne Ankündigung. Aus dem Nichts heraus hatte sie nach ihrem Vater gefragt, nach Antonio, der doch auf Nimmerwiedersehen auf dem großen Meer des Lebens verschwunden war, und alles war wieder aufgewirbelt worden, all der Dreck, der in zwei Jahrzehnten auf den Meeresboden gesunken war und sich dort abgelagert hatte zwischen Algen und Muscheln und Steinen. Die Erinnerung war aufgewirbelt worden und hatte Franco in schlaflosen Nächten mit Bildern erstickt: er und Antonio im Autoscooter, er und Antonio nebeneinander in der Schulbank, beim Abschreiben der Hausaufgaben in der Pause, er und Antonio beim Zelten in den Bergen, am Meer, beim Rauchen eines Joints, bei einer Friedensdemonstration, er und Antonio mittags in der Mensa und abends in der einen Bar und morgens in einer anderen, er und Antonio beim Angeln, ein Espresso vor dem Angeln und einer danach.
    »Die Stille am Morgen«, sagte er, »Antonio hat sie gebrochen. Die Stille beim Angeln.« Er hielt sich die Ohren zu.
    »Dein Vater«, hatte Antonio eines Morgens in die Stille hinein gesagt: »Dein Vater steckt da ziemlich tief mit drin, ich wollte nur, dass du das weißt«, dann war er wieder still. Franco hatte genickt, danke, va bene.
    Aber nichts war gut gewesen, der Satz hatte ihm auf immer den Tag verdunkelt und auf immer die Stille genommen, so oft und in so vielen Varianten war dieser eine Satz vor seinem geistigen Auge auf und ab geflattert, ein Schwarm Heuschrecken, der den Himmel verdunkelte. Dieses Dein Vater steckt da ziemlich tief mit drin, ich wollte nur, dass du das weißt, hatte eine Bedeutung, eine einzige Bedeutung: Dreck am Stecken. Sein Vater hatte Dreck am Stecken, sagte Antonio, was überhaupt nicht möglich war, was nicht sein konnte – unmöglich! Nicht sein Vater, der ihm von klein auf den Unterschied zwischen Gut und Böse und Oben und Unten und Recht und Unrecht erklärt hatte, sein Vater, der nicht umsonst Recht studiert hatte und auf der richtigen, der rechtmäßigen, der guten Seite des Lebens stand und das Unrecht bekämpfte und der für alle Leute ein Vorbild war, in erster Linie aber für ihn, seinen einzigen Sohn.
    Und was sollte dieser Sohn nun mit diesem scheinheiligen Ich wollte nur, dass du das weißt anfangen, was sollte er mit diesem hingeworfenen Satz anfangen, der nichts bedeutete und zugleich alles, denn die Saat des Zweifels ließ sich nicht mehr ausradieren, der Zweifel war da und verdunkelte die Sonne am Tag und blendete in der Nacht und gab unentwegt Störgeräusche von sich wie nach einem

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