Die Toten von Santa Lucia
von beiden. Er hatte über vierzig Jahre lang gegen das organisierte Verbrechen gekämpft. Er hatte diesen Kampf überlebt, das war vielleicht schon einer der größten Erfolge, die hier zu verzeichnen waren. Er hatte mitgeholfen, einige wichtige Leute hinter Gitter zu bringen. Seinen kleinen Machtbereich kannte er wie seine Westentasche, vor allem aber dessen Grenzen. Der pensionierte Kommissar strich sich über den nicht vorhandenen Bart.
»Sagen wir mal so: Wir fürchten, dass die Unterlagen für eine Anklage nie und nimmer ausreichen.«
»Wieso?«, riefen beide Frauen wie aus einem Munde.
»Soll mein Vater das alles völlig umsonst herausgefunden haben?«
Striano zögerte, wählte seine Worte dann sorgfältig. »Das Material ist gut, Di Napoli hat bemerkenswert lückenlos recherchiert und wichtige Informationen zusammengetragen, und eine Veröffentlichung wäre auch heute noch fatal. Für seinen gesellschaftlichen Ruf. Aber vor Gericht kämen wir damit nicht durch.
Gentilini übernahm jetzt das Wort. »Es stellt sich noch eine ganz andere Frage.« Er sah niemanden direkt an, blickte vage in Richtung Meer, Strand, Horizont. »Woher wusste Fusco überhaupt, dass er in den Unterlagen belastet wird?«
»Durch Libero natürlich«, sagte Sonja, »das habt ihr doch vorhin selbst gesagt.«
»Richtig, aber damals? Woher wusste er damals, als Antonio Di Napoli noch lebte, was in den Unterlagen stand, bevor sie überhaupt irgendwer zu Gesicht bekommen hatte? Also vor dem Mord an Di Napoli? Woher zum Teufel wusste er, dass die Dokumente ihn belasten?« Gentilini sah in die Runde. Ihm war anzusehen, dass er noch nicht fertig war.
»Machen wir uns die Reihenfolge noch einmal klar: Di Napoli recherchiert und stößt auf diverse kleine Pulverfässer. Er will die Sachen veröffentlichen, tut es dann aber doch nicht, sondern vertraut eine Kopie von dem Zeug der italienischen Post an, ein zweifelsohne mutiger Akt. Nach mehreren Monaten Irrfahrt landet der Umschlag wohlbehalten in Hamburg und wird dort postwendend auf einen Dachboden verfrachtet. Hat zu Lebzeiten Antonios irgendwer die Unterlagen zu Gesicht bekommen? Es hätte alles ebenso gut eine große Luftblase sein können. Vermutlich wusste niemand Genaues. Niemand konnte wissen, was Di Napoli rausgefunden hatte, wen er belastet hat und mit welchen Beweisen. Dass Di Napoli Material für einen Enthüllungsknüller gesammelt hatte, ist erst nach dem Mord herausgekommen, als ein Kollege von der Zeitung in einem Artikel das geheimnisvolle Manuskript erwähnt hat. Klar, in einer Redaktion wird den lieben langen Tag geredet. Wahrscheinlich hat Di Napoli Andeutungen gemacht, mehr nicht. Erstens kannte er die Gefahr, zweitens hätte er einen Teufel getan, das wertvolle Material der Konkurrenz zu überlassen. Aber schon vor dieser Zeitungsnotiz hatte jemand seine Wohnung auf den Kopf gestellt. Also wusste definitiv irgendwer Bescheid. Aber wer?«, fuhr Gentilini fort. »Wer wusste, was in den Unterlagen stand? Mit wem hat Antonio Di Napoli darüber gesprochen? Es muss ein Vertrauter von ihm gewesen sein.«
»Jemand aus der Familie«, schlug Luzie vor.
»Vittorio jedenfalls nicht«, sagte Sonja. »Ich tippe eher auf einen Freund. Einen guten Freund. Wie zum Beispiel …«
»… Franco Fusco. Der Sohn des Mannes, der in Antonios Unterlagen stark belastet wird.«
»Du meinst, Franco hat davon erfahren und seinen Vater gewarnt? Und sein Vater hat Antonio dann umbringen lassen …?«
»Ich habe doch vorhin schon gesagt, dass mit dem irgendwas nicht stimmt«, sagte Luzie. »Ich frage mich immer wieder, wieso er so getan hat, als wäre mein Vater noch am Leben. Er hätte doch einfach sagen können, dass er seit zwanzig Jahren tot ist, oder? Warum hat er das nicht getan? Was sollte das?«
Die beiden Männer zuckten ratlos die Schultern.
»Aus Angst«, murmelte Sonja.
»Wovor? Dass ich losheule und er mich trösten muss?« Luzie warf den Kopf zurück. »Ich will euch was sagen: Ich werde mich mit ihm treffen. Ich werde ihn einfach fragen. Irgendeine Antwort muss er mir ja geben.«
»Das wirst du nicht«, sagte Sonja empört.
»Doch, das werde ich.«
Mutter und Tochter sahen sich an, beide bemerkten die Veränderung. Luzie war gewachsen. Nicht äußerlich, denn was die Körpergröße anging, hatte sie Sonja schon vor drei Jahren überholt – nein, anders, Luzie war innerlich gewachsen und hatte dabei ihre alte Haut abgestreift, ihre Teenagerhülle, ihre Tochterhaut. Auch
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