Die Totenleserin1
Vielschichtigkeit und Komplexität angetan gewesen. »Genau daserwartet man nicht – dass alles so miteinander verstrickt ist. Man denkt, der Mann da ist ein Feind, weil er Allah anbetet. Und der Mann, der da vor einem Kreuz kniet, ist Christ, also muss er auf deiner Seite sein – und er ist tatsächlich ein Christ, aber er ist nicht unbedingt auf deiner Seite, er könnte sich ebenso gut mit einem moslemischen Fürsten verbündet haben.«
Das wusste Adelia bereits. Lange bevor Papst Urban im Jahre 1096 dazu aufrief, die Heiligen Stätten von mohammedanischer Herrschaft zu befreien, hatten italienische Kaufleute unbekümmert mit ihren moslemischen Pendants in Syrien und Alexandrien Handel betrieben. Sie hatten den ersten Kreuzzug verflucht, und sie hatten erneut geflucht, als die Männer des zweiten Kreuzzuges 1147 ins Heilige Land zogen und mit ebenso wenig Einblick in das menschliche Mosaik dort wie ihre Vorgänger das einträgliche Miteinander zerstörten, das über Generationen hinweg zwischen den unterschiedlichen Religionen bestanden hatte.
Während Rowley die bunte Vielfalt beschrieb, die ihn begeistert hatte, stellte Adelia verstört fest, wie auch ihre letzten Schutzwälle zu Staub zerfielen. Sie, die Menschen gerne in Kategorien einteilte und rasch Urteile fällte, stellte an diesem Mann eine feine Wahrnehmungsfähigkeit und Scharfsicht fest, wie das bei Kreuzfahrern nur selten der Fall war. Nicht, nicht. Diese Schwärmerei muss aufhören, ich darf dich nicht anhimmeln. Ich will mich nicht verlieben.
Ahnungslos redete Rowley weiter. »Zuerst war ich erstaunt, dass Juden und Moslems ebenso inbrünstig an dem Heiligen Tempel hingen wie ich, dass er ihnen genauso heilig war. «Auch wenn diese Erkenntnis in ihm nicht den leisesten Zweifel an der Gerechtigkeit der Sache der Kreuzfahrer weckte – »das kam später« –, so entwickelte er doch eine Abneigung gegen die lärmende,herablassende Intoleranz der meisten anderen Neuankömmlinge. Er zog die Gesellschaft und die Lebensart von Kreuzrittern vor, die selbst Nachfahren von Kreuzrittern waren und in diesem Schmelztiegel einen Platz gefunden hatten, an dem sie mit ihrer Gastfreundschaft den adeligen Guiscard und seine Entourage teilhaben ließen.
An Heimkehr war nicht zu denken, noch nicht. Sie lernten Arabisch, sie badeten in mild duftendem Wasser, jagten wie ihre Gastgeber mit wilden kleinen Wüstenfalken, trugen bequeme weite Gewänder und genossen die Gesellschaft williger Frauen, Sherbets, weiche Kissen, schwarze Diener, scharfe Speisen. Als sie in den Krieg zogen, bedeckten sie ihre Rüstung zum Schutz vor der Sonne mit einem Burnus, so dass sie von ihren sarazenischen Feinden nur noch durch das Kreuz auf dem Schild zu unterscheiden waren.
Denn sie zogen in den Krieg, Guiscard und sein kleines Häuflein Ritter, so vollständig hatten sie sich von Pilgern in Kreuzfahrer verwandelt. König Amalric hatte einen dringenden Aufruf an alle Franken erlassen: Sie sollten verhindern, dass der arabische Feldherr Nur ad-Din, der in Ägypten einmarschiert war, die moslemische Welt gegen die Christen vereinte.
»Ein großer Krieger, dieser Nur ad-Din, und ein großer Hundsfott. Indem wir in das Heer des Königs von Jerusalem eintraten, wurden wir auch Kämpfer im himmlischen Heer, so sahen wir das damals, müsst Ihr wissen.«
Sie zogen gen Süden.
Bis jetzt, so bemerkte Adelia, hatte der Mann neben ihr anschaulich erzählt, hatte weiße und goldene Kuppeln für sie entstehen lassen, große Häuser für die Kranken, Straßen voller Menschengewimmel, die unendliche Weite der Wüste. Doch die Beschreibung seines Kreuzzuges fiel knapp aus. »Heiliger Wahnsinn«, mehr sagte er nicht, fügte dann jedoch hinzu:»Dennoch, auf beiden Seiten gab es Hochherzigkeit. Als Amalric krank wurde, ordnete Nur ad-Din eine Kampfpause an, bis es seinem Widersacher wieder besser ging.«
Doch dem Christenheer folgte der Abschaum Europas. Der Gnadenerlass des Papstes, der für Sünder und Verbrecher galt, solange sie nur das Kreuz nahmen, hatte Männer ins Outremer geschwemmt, die wahllos töteten – in der sicheren Gewissheit, dass Jesu Arme sie erwarteten, ganz gleich, was sie taten.
»Vieh«, sagte Rowley über sie, »das noch nach dem Stall stank, aus dem es kam. Sie waren der Sklaverei entkommen, und jetzt wollten sie Land und Reichtum.«
Sie schlachteten Griechen, Armenier und Kopten eines älteren Christentums ab, weil sie sie für Heiden hielten. Juden oder Araber, die
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