Die Totenleserin1
habe ich ihn gefragt. Damit’s süßer wird.«
Lächelnd hatte Adelia geantwortet: »Ich glaube, sie haben es ganz gern bitter.«
»Ja, das hat er mir auch gesagt.«
Als Lady Baldwin jetzt gefragt wurde, ob sie eine Säugamme für den kleinen Simon wusste, versprach sie, eine zu besorgen. »Aber keine von den Burghuren«, sagte sie. »Der Kleine braucht
ehrbare
christliche Milch.«
Die Einzige, von der Simon im Stich gelassen worden war, dachte Adelia, als sie ihren Strauß ablegte, war sie selbst. Sein Name auf dem Holzbrett müsste Mord schreien und nicht von einem vermeintlichen Opfer eigener Unvorsichtigkeit künden.
»Helft mir, Rabbi«, sagte sie. »Ich muss Simons Familie schreiben und seiner Frau und den Kindern mitteilen, dass er tot ist.«
»So schreibt«, sagte Rabbi Gotsce. »Wir werden dafür sorgen, dass der Brief ankommt. Wir haben Leute in London, die mit Neapel korrespondieren.«
»Danke, das wäre gut. Aber das meinte ich nicht, ich …
was
soll ich denn schreiben? Dass er ermordet wurde, sein Tod aber als Unfall eingestuft wurde?«
Der Rabbi brummte: »Wenn Ihr seine Frau wärt, was würdet Ihr wissen wollen?«
Sie sagte sogleich: »Die Wahrheit.« Dann überlegte sie einen Moment. »Ach, ich weiß es nicht.« Vielleicht war es für Simons Rebekka besser, wenn sie glaubte, dass ihr Mann durch einen Unfall ertrunken war, statt sich wieder und wieder Simons letzte Augenblicke vorzustellen, so wie Adelia das tat, statt sich ihre Trauer, so wie Adelia, durch Entsetzen vergiften zu lassen, statt so sehr von dem Verlangen nach gerechter Strafe für seinen Mörder erfüllt zu werden, dass sie in nichts anderem mehr Trost finden konnte.
»Ich denke, ich werde es ihnen nicht schreiben«, sagte sie niedergeschlagen. »Nicht, solange er ungerächt ist. Wenn derMörder gefunden und bestraft wurde, vielleicht können wir ihnen dann die Wahrheit sagen.«
»Die Wahrheit, Adelia? So einfach?«
»Aber das ist sie doch.«
Rabbi Gotsce seufzte: »Für Euch vielleicht. Aber wie der Talmud sagt, geht der Name des Berges Sinai auf das hebräische Wort für Hass zurück, ›sinah‹, weil diejenigen, die die Wahrheit aussprechen, Hass ernten. Jeremia dagegen …«
Oje, dachte sie. Jeremia, der weinende Prophet. Keine der bedächtigen, weltklugen, gelehrten jüdischen Stimmen, die in dem sonnendurchfluteten Innenhof der Villa ihrer Zieheltern Vorträge hielten, konnte je von Jeremia sprechen, ohne Böses zu prophezeien. Und es war so ein schöner Tag, und die Blüten des Kirschbaums sahen so hübsch aus.
»… wir sollten an das alte jüdische Sprichwort denken, dass die Wahrheit die sicherste Lüge ist.«
»Das habe ich nie verstanden«, sagte sie, wieder zurück in der Wirklichkeit.
»Ich auch nicht«, räumte der Rabbi ein. »Aber im weiteren Sinne besagt es, dass die übrige Welt eine jüdische Wahrheit niemals gänzlich glauben wird. Adelia, glaubt Ihr wirklich, dass der wahre Mörder entlarvt und verurteilt werden wird?«
»Früher oder später«, sagte sie. »Möge Gott geben, dass es früher ist.«
»Dazu sage ich Amen. Und wenn dieser glückliche Tag kommt, werden sich die guten Menschen von Cambridge in einer Reihe vor der Burg aufstellen und weinen und Reue zeigen, tiefe Reue, weil sie zwei Juden getötet und den Rest hier eingesperrt haben? Glaubt Ihr das? Die Nachricht, dass die Juden gar nicht zum Vergnügen Kinder kreuzigen, wird sich wie ein Lauffeuer in der Christenheit verbreiten? Auch das glaubt Ihr?«
»Warum nicht? Es ist die Wahrheit.«
Rabbi Gotsce zuckte die Achseln. »Es ist Eure Wahrheit, es ist meine, es war die Wahrheit des Mannes, der hier liegt. Vielleicht werden sogar die Bürger von Cambridge sie glauben. Aber Wahrheiten reisen langsam und werden dabei immer schwächer. Gerne gehörte Lügen sind stärker und schneller unterwegs. Und das war eine gerne gehörte Lüge. Die Juden hatten das Lamm Gottes ans Kreuz genagelt, also kreuzigen sie Kinder – das passt. So eine hübsche, genehme Lüge schafft es rasch durch die gesamte Christenheit. Ob die Dörfer in Spanien die Wahrheit glauben werden, falls sie überhaupt so weit kommt? Und die Bauern in Frankreich? Russland?«
»Nicht, Rabbi. Bitte nicht.« Es war, als hätte dieser Mann tausend Jahre gelebt; vielleicht hatte er das ja.
Er bückte sich, um eine Blüte vom Grab aufzuheben, richtete sich wieder auf, nahm ihren Arm und ging mit ihr zum Tor. »Findet den Mörder, Adelia. Befreit uns aus diesem englischen
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