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Die Totenleserin1

Die Totenleserin1

Titel: Die Totenleserin1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: franklin
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Ägyptenland. Aber am Ende werden es noch immer die Juden sein, die jenes Kind gekreuzigt haben.«
    Finde den Mörder, dachte sie, während sie den Hügel hinunterging. Finde den Mörder, Adelia. Auch wenn Simon aus Neapel tot ist und Rowley Picot außer Gefecht gesetzt, womit nur noch ich und Mansur bleiben. Mansur spricht die Sprache nicht, und ich bin Ärztin, kein Bluthund. Und hinzu kommt die Tatsache, dass wir überhaupt die Einzigen sind, die denken, dass es einen Mörder gibt, der gefunden werden muss.
    Die Leichtigkeit, mit der Roger aus Acton Freiwillige für seinen Angriff auf den Burggarten anwerben konnte, bewies, dass Cambridge den Juden noch immer einen Ritualmord unterstellte, obwohl noch drei weitere Morde geschehen waren, seit sie in der Burg gefangen gehalten wurden. Logik geriet dabei in Vergessenheit; die Juden waren gefürchtet, weil sie anders waren, und diese Andersartigkeit und Angst der Städter verliehihnen übernatürliche Fähigkeiten. Die Juden hatten den Kleinen St. Peter umgebracht, ergo hatten sie auch die anderen getötet.
    Und dennoch, trotz Rabbi und Jeremia, trotz des Kummers um Simon, trotz ihrer Entscheidung, der fleischlichen Liebe zu entsagen und weiter in Keuschheit der Medizin zu dienen, breitete sich der Tag unbeirrt in herrlicher Schönheit vor ihr aus.
    Was ist das nur? Ich bin wie auseinandergezogen, dünn gedehnt, offen für den Tod und den Schmerz anderer, aber auch für das Leben mit seinem unendlichen Reichtum.
    Es war, als trieben die Stadt und ihre Menschen in einer blassgoldenen moussierenden Flüssigkeit, wie der Wein aus der Champagne. Eine Gruppe Studenten grüßte sie, indem sie ihre Kappen lupften. Man erließ ihr den Brückenzoll, als sie in ihrer Tasche vergeblich nach einem halben Penny kramte. »Was soll’s, dann geht eben so, und Euch schönen Tag«, sagte der Brückenwärter. Auf der Brücke selbst hoben Kutscher zum Gruß die Peitschen, Fußgänger lächelten.
    Sie nahm den längeren Weg zum Haus des alten Benjamin am Fluss entlang, und Weidenzweige strichen ihr freundlich über die Schultern, Fische im Fluss kamen an die Oberfläche und warfen Bläschen, die das Sprudeln in ihren Adern widerspiegelten.
    Auf dem Hausdach des alten Benjamin war ein Mann. Er winkte ihr zu. Adelia winkte zurück.
    »Wer ist das?«
    »Gil der Dachdecker«, erklärte Matilda B. »Er meinte, sein Fuß wäre wieder gut und auf dem Dach müssten ein paar Ziegel ausgebessert werden.«
    »Und er verlangt nichts dafür?«
    »Natürlich nicht«, sagte Matilda augenzwinkernd. »Der Doktor hat ihm doch den Fuß gerettet, oder?«
    Adelia hatte sich die mangelnde Dankbarkeit der Patienten in Cambridge mit schlechten Manieren erklärt. Die Leute sagten nur selten, dass sie die Behandlung durch Doktor Mansur und seine Gehilfin zu schätzen wussten. Normalerweise verließen sie den Raum ebenso mürrisch dreinblickend, wie sie gekommen waren, ganz anders als die Patienten in Salerno, die sie oftmals fünf Minuten lang mit Lob überschütteten.
    Aber außer dem geflickten Dach gab es nun eine Ente zum Abendessen, die von der Frau des Schmiedes gebracht worden war, deren unaufhaltsame Erblindung jetzt zumindest erträglicher war, weil ihre Augen nicht mehr eiterten. Ein Topf Honig, ein paar Eier, ein Klumpen Butter und ein Krug mit irgendetwas Ekligem darin, das sich als Meerfenchel entpuppte, legten nahe, dass die Menschen von Cambridge auf handfestere Weise ihre Dankbarkeit zeigten.
    Etwas Wichtiges fehlte: »Wo ist Ulf?«
    Matilda B zeigte zum Fluss, wo unter einer Erle die Spitze einer schmutzig braunen Mütze über das Schilf hinweglugte. »Fängt Forellen zum Abendessen, aber sagt Gyltha, wir behalten ihn im Auge. Wir haben ihm gesagt, er soll sich da bloß nicht vom Fleck wegrühren. Auch nicht für Jujuben oder sonst was.«
    Matilda W sagte: »Er hat Euch vermisst.«
    »Ich hab ihn auch vermisst.« Und das stimmte. Selbst während des erbitterten Kampfes um das Leben von Rowley Picot hatte es ihr leid getan, nicht bei dem Jungen sein zu können, und sie hatte ihm über Gyltha Botschaften gesandt. Sie hätte fast geweint, als Gyltha ihr von ihm einen Strauß Schlüsselblumen brachte, der mit einer Kordel zusammengebunden war, »… um dir zu zeigen, dass ihm dein Verlust leid tut«. Diese neue Liebe, die sie empfand, strahlte mit ihrer Leuchtkraft nach außen; nach Simons Tod fiel ihr Schein auf all die Menschen, die sie, wie sie nun erkannte, für ihr Wohlergehen brauchte, und

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