Die Totenleserin1
überrumpelt.«
»O Gott«, sagte Adelia, »wie lang stehen sie schon da?«
»Die hätten sie einfach nicht reinlassen sollen, oder?«, meinte der Junge.
Die Kleine war gnädiger. »Nachts werden sie rausgelassen.«
Der Pranger war furchtbar schlecht für den Rücken. Adelia eilte zu den beiden Männern, die jeder ein Schild um den Hals hängen hatten. Darauf stand: »Ich habe meine Pflicht verletzt.«
Vorsichtig, um nicht in den Kot zu treten, der sich zu Füßen der Prangeropfer sammelte, legte Adelia ihren Strauß beiseite und hob eines der Schilder an. Sie zog das Wams des Wachmannes ein Stück hoch, so dass der Strick, der ihm in den Nacken schnitt, vom Stoff gepolstert wurde. Das Gleiche tat sie bei dem anderen Mann. »Ich hoffe, so ist es etwas angenehmer.«
»Danke, Mistress.« Beide starrten mit militärischer Korrektheit geradeaus.
»Wie lange müsst Ihr noch hier stehen?«
»Noch zwei Tage.«
»Oje«, sagte Adelia, »das muss die Hölle sein, aber wenn Ihr ab und zu das Gewicht auf die Handgelenke legt und die Beine nach hinten beugt, dann entlastet das Euer Rückgrat.«
Einer der Männer sagte ausdruckslos: »Wir werden daran denken, Mistress.«
»Tut das.«
An einem Ende des Gartens überwachte die Gattin des Sheriffs die Teilung von Gänsefingerkrautwurzeln, während sie sich lautstark mit Rabbi Gotsce unterhielt, der sich am anderen Ende über das Grab beugte.
»Ihr solltet es in den Schuhen tragen, Rabbi. Wie ich. Gänsefingerkraut ist gut gegen Gicht.« Lady Baldwins Stimme reichte mühelos bis zu den Mauern.
»Besser als Knoblauch?«
»Viel, viel besser.«
Amüsiert blieb Adelia am Tor stehen, bis Lady Baldwin sie bemerkte. »Da seid Ihr ja, Adelia. Wie geht es Sir Rowley heute?«
»Besser, vielen Dank, Madam.«
»Gut, gut. Auf einen so tapferen Mann können wir nicht verzichten. Und was macht Eure arme Nase?«
Adelia lächelte. »Wieder gerichtet und schon vergessen.« Die Notwendigkeit, Rowleys Blutung so schnell wie möglich zu stillen, hatte alles andere in den Hintergrund gedrängt. Sie hatte die Fraktur erst zwei Tage später bemerkt, als Gyltha meinte, dass ihre Nase dick und blau geworden sei. Nach dem Rückgang der Schwellung hatte Adelia den Knochen mühelos wieder an die richtige Stelle drücken können.
Lady Baldwin nickte: »Was für ein hübscher Strauß, sehr grün und weiß. Der Rabbi sieht gerade nach dem Grab. Geht nur, geht nur. Ja, der Hund auch – falls es einer ist.«
Adelia ging den Pfad hinunter zu dem Kirschbaum. Auf dem Grab lag jetzt ein schlichtes Holzbrett, in das auf Hebräisch »Hier liegt begraben«, gefolgt von Simons Namen, eingeschnitzt worden war. Darunter standen die Buchstaben für »Möge seine Seele gebündelt sein im Bund des Lebens«.
»Das muss vorläufig genügen«, sagte Rabbi Gotsce. »LadyBaldwin will uns statt des Brettes einen Stein beschaffen, einen ganz schweren, der sich nicht heben lässt, sagt sie, damit Simon nicht entweiht werden kann.« Er richtete sich auf und klopfte die Erde von seinen Händen. »Sie ist eine gute Frau, Adelia.«
»Ja, das ist sie.« Der Garten war weniger das Reich des Sheriffs als das seiner Gattin. Hier spielten ihre Kinder, und hier erntete sie die Kräuter, die sie zum Würzen von Speisen nahm und als Duftspender in ihren Zimmern verteilte. Es war kein geringes Opfer gewesen, einen Teil davon dem Leichnam eines Mannes zu überlassen, der von ihrer eigenen Religion verachtet wurde. Zugegeben, da es sich hier letztlich um königlichen Grund und Boden handelte, war Lady Baldwin durch höhere Gewalt gezwungen worden, doch sie hatte mit Anstand zugestimmt.
Aber damit nicht genug. Das Prinzip, dass der Gebende ebenso eine Verpflichtung eingeht wie der Empfangende, war wirksam geworden, und Lady Baldwin zeigte sich um das Wohlergehen der seltsamen Gemeinde in ihrer Burg besorgt. Dina hatte die Windeln des jüngsten kleinen Baldwin-Kindes bekommen, und es war vorgeschlagen worden, dass die Gemeinde den großen Brotofen der Burg mitbenutzen durfte, anstatt für sich selbst zu backen.
»Es sind ja wirklich einfach nur Menschenkinder, genau wie wir«, hatte Lady Baldwin erklärt, als sie Adelia im Krankenzimmer besuchte und ihr Kalbsfußsülze für den Patienten brachte. »Und der Rabbi kennt sich ganz beachtlich mit Kräutern aus, wirklich ganz beachtlich. Anscheinend essen sie die viel zu Ostern, obwohl sie offenbar eher die bitteren nehmen, Meerrettich und so. Warum denn nicht ein bisschen Brustwurz,
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