Die Totenleserin1
inne. »Jimmer war einer von denen, die die Burg gestürmt haben. Gibt den Juden noch immer die Schuld an Mary.«
Dann hatte Marys Vater also zu diesem schrecklichen Trupp von Männern um Roger aus Acton gehört. Adelia erinnerte sich, dass der Mann brutal war und wahrscheinlich sein eigenes Schuldgefühl wegen der Behandlung seiner Tochter lindern wollte, indem er die Juden angriff.
Ulf ging weiter seine Liste durch. Er deutete mit dem Daumen über den Fluss. »Harold?« Ein gequältes Stirnrunzeln. »Sohn vom Aalhändler, und Harold sollte Wasser holen, umdie Jungaale reinzusetzen. Verschwunden …«, Ulf lehnte sich vor, »
… auf dem Weg zur Cam.«
Ihre Augen ruhten auf ihm. »Und Ulric?«
»Ulric«, sagte Ulf, »hat mit seiner Ma und seinen Schwestern auf Sheeps Green gewohnt. Ist am Tag von St. Edward verschwunden. Und was für ein Tag war das?«
Adelia schüttelte den Kopf.
»Montag.« Er lehnte sich zurück.
»Montag?«
Ihre Ahnungslosigkeit wurde mit einem Kopfschütteln quittiert. »Willst du mich vergackeiern? Waschtag, Menschenskind. Montag ist Waschtag. Ich hab mit seiner Schwester geredet. Die hatten kein Regenwasser mehr für die Wäsche, und da haben sie Ulric mit ’nem Eimerjoch losgeschickt …«
»Runter zum Fluss«, beendete sie den Satz im Flüsterton.
Sie starrten sich an und wandten dann gleichzeitig den Kopf, um auf die Cam zu blicken. Sie führte Hochwasser; in der Woche hatte es heftige Regenfälle gegeben. Adelia hatte die Fensterläden des Turmzimmers geschlossen, damit es nicht reinregnete. Jetzt lag der Fluss unschuldig glänzend im Sonnenlicht und schloss fast bündig mit der Oberkante seiner Uferböschungen ab, wie eine gewundene Intarsie.
Hatten andere diese Gemeinsamkeit bei den Kindermorden bemerkt? Bestimmt, dachte Adelia. Selbst der Leichenbeschauer des Sheriffs war nicht gänzlich auf den Kopf gefallen. Aber die Bedeutung dessen mochte ihnen entgangen sein. Die Cam war Speisekammer, Wasserweg und Waschstelle der Stadt; ihre Ufer lieferten Brennholz, Bedachung und Möbelholz; jedermann nutzte den Fluss. Es war daher eigentlich kaum überraschend, dass alle Kinder in seiner Nähe verschwunden waren. Aber Adelia und Ulf wussten noch etwas; Simon war in demselben Wasser ertränkt worden – das konnte kein Zufall sein.
»Ja«, sagte sie. »Es ist der Fluss.«
Der Abend nahte, und der Fluss wurde belebter: Boote und Menschen hoben sich vor der untergehenden Sonne ab, so dass nur die Silhouetten zu sehen waren. Diejenigen, die nach einem Arbeitstag in der Stadt auf dem Nachhauseweg waren, grüßten Arbeiter, die von einem Feld im Süden zurückkamen, oder schimpften, wenn deren Boot einen Stau verursachte. Enten flatterten auseinander, Schwäne ergriffen laut schimpfend die Flucht. Ein Ruderboot beförderte ein neugeborenes Kälbchen, das per Hand aufgezogen werden sollte.
»Glaubst du, er hat Harold und die anderen zum Wandlebury gebracht?«, fragte Ulf.
»Nein. Da ist nichts.«
Sie glaubte allmählich nicht mehr, dass die Kinder auf dem Hügel ermordet worden waren. Er war zu ungeschützt. Um sie so lange leiden zu lassen, brauchte der Mörder mehr Ungestörtheit, als eine Hügelkuppe ihm bieten konnte, eine Kammer, ein Gewölbe, irgendeinen Raum, aus dem ihre Schreie nicht nach draußen drangen. Der Wandlebury mochte zwar einsam sein, aber Todesqualen machten Lärm. Rakshasa hätte befürchten müssen, dass irgendwer sie hörte, und er hätte sich nicht die Zeit lassen können, die er brauchte.
»Nein«, wiederholte sie. »Mag sein, dass er die Leichen dorthin bringt, aber es muss einen anderen Ort geben …« Sie wollte sagen, »wo sie getötet werden«, bremste sich aber. Ulf war schließlich doch noch ein kleiner Junge. »Und du hast Recht«, sagte sie, »es ist irgendwo am oder in der Nähe vom Fluss.«
Sie beobachteten weiter das sich bewegende Fries aus Gestalten und Booten.
Da kamen drei Vogeljäger, deren Kahn tief im Wasser lag, weil er mit einem ganzen Berg Gänse und Enten für den Tisch des Sheriffs beladen war. Und dort der Apotheker in seinem leichtenBoot – Ulf sagte, er habe eine Freundin in der Nähe von Seven Acres. Ein Tanzbär saß im Heck eines Bootes, während sein Herr und Meister ihn zu ihrer Hütte bei Hauxton ruderte. Marktfrauen fuhren mit leeren Körben vorbei, stakten die Kähne scheinbar mühelos. Eine achtruderige Barke zog eine andere hinter sich her, die Kreide und Mergel für die Burg beförderte.
»Warum bist du mitgegangen,
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