Die Totenleserin1
festzuhalten.
Die Augen des Kindes hielten ihren Blick fest. »Du bist hinter mir hergekommen.«
»Sie sollten dich nicht kriegen.«
Er dachte eine Weile darüber nach, und das hässliche kleine Gesicht nahm wieder einen Hauch seiner alten Züge an. »Ich hab dich gehört. Mann, hast du rumgeflucht. So was hab ich noch nie gehört, nich mal, als die Soldaten in der Stadt waren.«
»Wenn du das je einer Menschenseele erzählst, landest du wieder in dem Loch.«
Gyltha erschien in der Tür. Wie Rowley, der hinter ihr aufragte, war sie wütend vor Erleichterung. Tränen strömten ihr übers Gesicht. »Du Rotzlöffel«, schrie sie Ulf an. »Was hatte ich dir gesagt? Du kriegst eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat.«
Schluchzend stürzte sie auf ihren Enkelsohn zu, und der streckte ihr mit einem frohen Seufzer die Arme entgegen.
»Raus«, wies Rowley die beiden an. Hinter ihm standen schwer beladene Diener. Adelia entdeckte das besorgte Gesicht von Bruder Swithin, dem Leiter des Gästehauses.
Gyltha ging mit Ulf in den Armen zur Tür, blieb dann aber stehen und fragte Rowley: »Kann ich denn wirklich nichts für sie tun?«
»Nein. Raus mit euch.«
Gyltha zögerte noch immer und sah Adelia an. »Es war ein guter Tag, als du nach Cambridge gekommen bist«, sagte sie, dann ging sie hinaus.
Männer schleppten eine große Zinnwanne herein, die sie aus Krügen mit dampfendem Wasser füllten. Einer brachte gelbe Seifenstücke auf einem Stapel harter, zerschnittener Laken, die in der Abtei als Handtücher dienten.
Adelia sah ungeduldig bei den Vorbereitungen zu. Den Dreck,den die Mörder in ihrem Kopf hinterlassen hatten, konnte sie nicht wegspülen, aber sie konnte ihn sich wenigstens vom Körper schrubben.
Bruder Swithin war besorgt. »Die Lady ist verletzt, ich sollte unseren Krankenpfleger rufen.«
»Als ich die Lady fand, rollte sie gerade auf dem Boden herum und kämpfte mit den Mächten der Finsternis. Sie wird überleben.«
»Es sollte wenigstens eine Lady mit im Raum sein …«
»Raus«, sagte Rowley, »auf der Stelle.« Er breitete die Arme aus, schob sämtliche Diener zur Tür hinaus und schloss sie hinter ihnen. Er war ein massiger Mann, wie Adelia bemerkte. Aber er hatte sichtlich abgespeckt. Er war noch immer schwer, doch inzwischen kamen seine kräftigen Muskeln zum Vorschein.
Er kam zu ihrem Bett getrottet, fasste sie unter den Armen und stellte sie vor sich auf den Boden. Dann fing er an, sie auszuziehen, befreite sie erstaunlich behutsam von den grässlichen Kleidern.
Sie kam sich sehr klein vor. Wollte er sie verführen? Er würde doch bestimmt aufhören, wenn er bei ihrem Unterrock ankam.
Er wollte nicht, und er hörte nicht auf. Er wollte sie pflegen. Als er ihren nackten Körper hochhob und in die Wanne gleiten ließ, sah sie ihm ins Gesicht. Es hätte auch Gordinus’ Gesicht sein können, wenn er mit großer Aufmerksamkeit eine Leiche öffnete.
Ich müsste eigentlich verlegen sein, dachte sie. Ich
möchte
verlegen sein, aber ich bin es nicht.
Das Badewasser war angenehm warm, und sie ließ sich tief hineinsinken, nahm sich ein Stück Seife, ehe sie gänzlich untertauchte, und begann zu schrubben, genoss das raue Gefühlauf der Haut. Sie hatte Mühe, die Arme zu heben, daher tauchte sie kurz wieder auf und bat ihn, ihr die Haare zu waschen, spürte dann sogleich, wie seine Finger kräftig ihre Kopfhaut bearbeiteten. Die Diener hatten Krüge mit frischem Wasser dagelassen, und er spülte ihr die Haare damit aus.
Sie kam nicht an ihre Füße, ohne Schmerzen zu haben, also seifte er die ebenso eifrig ein, gründlich, auch zwischen den Zehen.
Sie dachte, während sie ihn beobachtete: Ich bin im Bad, nackt in einem Bad ohne Schaum, und ein Mann wäscht mich. Mein Ruf ist ruiniert, und zur Hölle damit. Ich war in der Hölle, und mein einziger Wunsch dort war, für diesen Mann am Leben zu bleiben. Der mich daraus befreit hat.
Es war, als wären sie und Ulf, sie alle, in eine Welt geraten, auf die sie nicht einmal ihre Alpträume hatten vorbereiten können, eine Welt, die so dicht neben der normalen existierte, dass schon ein unbedachter Schritt hineinführte. Es war eine Welt barbarischer Grausamkeit, die sie zwar überlebt hatten, die aber alle Schicklichkeit als Illusion entlarvt hatte. Ihr Lebensfaden war so knapp davor gewesen, durchtrennt zu werden, dass sie sich nie wieder darauf verlassen würde, eine Zukunft zu haben.
Und in jenem Moment hatte sie diesen Mann gewollt. Wollte
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