Die Totenleserin1
Kreuzfahrer gelernt hat? Dann die Opiumtinktur auf die Nase – glaub mir, im Kloster haben die reichlich Opium.« Abermals sah Adelia zarte Hände zum Gebet erhoben, die sich dann nach unten wandten und zu klauenartigen Eisenbändern wurden. »Allmächtiger …« Sie rieb sich die Stirn.
Gyltha zuckte die Achseln. »So was tun Nonnen doch nich.«
»Aber es war der
Fluss
. Ich wusste es, deshalb bin ich in das Boot gestiegen. Sie konnte sich frei auf dem Fluss bewegen, rauf und runter – nach Grantchester, zu
ihm
. Alle kannten sie. Die Leute haben ihr zugewinkt, oder sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Eine gläubige Nonne, die den Einsiedlern Lebensmittel bringt? Auf die achtet keiner und schon gar nicht Priorin Joan. Und wenn Walburga mit ihr unterwegs war, ist sie immer bei ihrer Tante ausgestiegen. Was glauben die denn, was sie gemacht hat, wenn sie die ganze Nacht wegblieb?«
»Ich weiß das, und Ulf weiß es auch. Aber, na ja …« Gyltha war ein verbissener Advocatus Diaboli. »Sie hat fast so schwere Verletzungen wie du. Sie haben eine von den Schwestern geholt, um sie zu baden, weil ich die Hexe nich anfassen wollte, aber ich hab sie mir angesehen. Blutergüsse am ganzen Körper, Bisse, ein Auge zugeschwollen wie bei dir. Die Nonne, die sie gewaschen hat, hat geweint, weil das arme Ding so leiden musste, und nur, weil sie dir helfen wollte.«
»Es hat ihr … gefallen. Sie hat es genossen, wenn er sie gequält hat.
Das ist die Wahrheit.«
Denn Gyltha war mit einem verständnislosen Stirnrunzeln zurückgewichen. Wie sollte sie ihrerklären, irgendwem erklären, dass sich die Entsetzensschreie der Nonne während des Angriffs der Bestie auch mit Schreien einer wahnsinnigen, lustvollen Wonne vermischt hatten?
Sie kann eine solche Perversion nicht verstehen, dachte Adelia verzweifelt, und ich auch nicht. Dumpf sagte sie: »Sie hat ihm die Kinder besorgt. Und sie hat Simon getötet.«
Die Schale glitt aus Gylthas Hand und rollte durchs Zimmer, so dass sich Suppe über die breiten Ulmenholzdielen ergoss. »Master Simon?«
Adelia war wieder auf dem Fest im Grantchester Manor und sah, wie Simon aus Neapel aufgeregt mit dem Steuereintreiber am Ende der Tafel sprach, die Schuldnerlisten in seiner Tasche, nur wenige Schritte von dem Stuhl entfernt, auf dem der Gastgeber des Festes saß, den sie belasteten, und nur wenige mehr von der Frau entfernt, die dem Mörder seine Opfer zugeführt hatte.
»Ich habe gesehen, wie er ihr gesagt hat, sie soll Simon töten.« Und sie sah sie jetzt wieder, beim gemeinsamen Tanz, der Kreuzritter und die Nonne, die von ihm Anweisungen bekam. Barmherziger Gott, in dem Moment hätte sie es wissen müssen. Der aufbrausende, Frauen hassende Bruder Gilbert hatte es ihr ja praktisch auf die Nase gebunden, ohne selbst die Tragweite seiner Worte zu erahnen:
»Sie bleiben die ganze Nacht weg. Sie geben sich der Zügellosigkeit und Lust hin. In einem anständigen Haus würden sie dafür so lange ausgepeitscht, bis ihnen der Hintern blutet, aber wo ist ihre Priorin? Auf der Jagd.«
Simon, der früher ging, um die Listen durchzusehen, die er endlich gefunden hatte, und herauszufinden, wer aus Geldgründen ein Motiv hatte, die Juden mit den Morden in Verbindung zu bringen. Sein Gastgeber, der nach kurzer Abwesenheit aus dem Garten zurückkam, nachdem er seine Kreatur losgeschickt hatte.
»Sie hat das Fest früher verlassen. Ich glaube, die anderen Nonnen habe ich später noch gesehen, aber sie nicht. Oder? Nein, ich bin sicher. Und die Priorin ist sogar noch länger geblieben.«
Und dann? Die sanfteste und engelhafteste der Nonnen …?
»In so einer dunklen Nacht noch ein so weiter Weg, Master Simon? Ich kann Euch doch im Kahn mitnehmen. Ja, ja, da ist Platz genug. Ich bin allein, froh über Eure Begleitung.«
Adelia dachte an die von Weiden verdunkelten Abschnitte der Cam, und an eine schlanke Gestalt mit stählernen Handgelenken, die die Stakstange ins Wasser stieß, damit einen Mann niederdrückte wie einen aufgespießten Fisch, während er qualvoll ertrank.
»Er hat ihr befohlen, Simon zu töten und seine Tasche zu stehlen«, sagte Adelia. »Sie hat immer getan, was er wollte, sie war seine Sklavin. In dem Schacht musste ich ihr Ulf wegnehmen, ich glaube, sie wollte ihn töten, damit er sie nicht verraten konnte.«
»Als ob ich das nich wüsste«, beteuerte Gyltha, während sie mit den Händen Bewegungen machte, als wollte sie das Wissen von sich wegschieben. »Als ob Ulf mir nich
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