Die Totenleserin1
Zeichen, dass er Kreuzritter war. Einige Heimkehrer starben an den Krankheiten, die sie sich unterwegs eingefangen hatten, und wurden weniger aufwändig bestattet, mit Grabsteinen, die ein schlichtes eingemeißeltes Schwert zierte. Andere waren lediglich ein Name auf einer Gefallenenliste, die die Überlebenden mit nach Hause brachten. Wieder andere hatten ein reicheres, trockeneres Leben in Syrien gefunden und waren dort geblieben.
Manche nahmen nach ihrer Rückkehr ihr früheres Leben wieder auf, so dass Adelia und Simon laut Gyltha einige Leute genauer im Auge behalten sollten: zwei Ladenbesitzer, etliche Bauern, einen Schmied und auch den Apotheker, der Doktor Mansur mit Arzneien belieferte, ganz zu schweigen von Bruder Gilbert und dem schweigsamen Kanoniker, der Prior Geoffrey auf der Pilgerfahrt begleitet hatte.
»Bruder Gilbert war bei dem Kreuzzug dabei?«
»Allerdings. Und es bringt nichts, nur die zu verdächtigen, die als reiche Männer zurückgekommen sind, wie Sir Joscelin und Sir Gervase«, hatte Gyltha unnachgiebig gesagt. »Jede Menge Leute leihen sich Geld bei Juden, kleine Beträge vielleicht, aber groß genug, um die Zinsen nicht zahlen zu können. Außerdem ist gar nicht sicher, dass der Kerl, der den Pöbel dazu aufgewiegelt hat, den Juden aufzuknüpfen, auch der Unhold ist, der die Kinder umgebracht hat. Es gibt reichlich Leute, die einen Juden nur allzu gerne baumeln sehen
und
sich Christen schimpfen.«
Die Größenordnung des Problems hatte Adelia eingeschüchtert, doch angesichts der unbestreitbaren Logik der Haushälterin konnte sie nur das Gesicht verziehen.
Als sie sich jetzt umschaute, war ihr daher klar, dass sie Sir Joscelins unübersehbarem Reichtum keine finstere Bedeutung beimessen durfte. Er konnte ihn in Syrien erworben haben, musste ihn nicht unbedingt Chaim dem Juden verdanken. Zweifellos hatte sein Wohlstand ein angelsächsisches Lehnsgut in ein einigermaßen ansehnliches Herrenhaus verwandelt. Die große Halle, in der sie speisten, hatte ein mit Schnitzereien neu verziertes Dach, schöner als die meisten, die sie bislang in England gesehen hatte. Auf der Galerie spielten Musikanten Laute, Drehleier und Flöte. Das persönliche Eisenbesteck, das ein Gast für gewöhnlich zu einem Mahl mitbrachte, war überflüssig geworden, da neben jedem Teller bereits ein Messer und ein Löffel lagen. Saucieren, Fingerschalen, die auf den Tisch bereit-standen, waren aus edlem Silber, die Servietten aus Damast.
Adelia äußerte ihre Bewunderung gegenüber ihren Tischnachbarn. Hugh der Jäger nickte bloß. Der kleine Nachbar zu ihrer Linken sagte: »Aber Ihr hättet sehen sollen, wie’s hier früher ausgesehen hat, eine wunderbar wurmstichige, halb verfallene Scheune war das einmal, als Sir Tibault noch lebte, JoscelinsVater. Unangenehmer alter Knabe war das, Gott hab ihn selig, hat sich am Ende totgesoffen. Stimmt’s, Hugh?«
Hugh brummte. »Sein Sohn ist anders.«
»Das kann mal wohl sagen. Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Hat hier wieder Leben reingebracht, der gute Joscelin. Hat sein Gold gut genutzt.«
»Gold?«, fragte Adelia.
Ihr Interesse machte den kleinen Mann noch redseliger. »Hat er mir jedenfalls erzählt. ›In Outremer ist Gold, Master Herbert‹, hat er zu mir gesagt, ›in Hülle und Fülle, Master Herbert.‹ Und ich bin schließlich sein Schuhmacher, ein Mann schwindelt seinen Schuhmacher nich an.«
»Ist Sir Gervase auch mit Gold zurückgekommen?«
»Mit einem ganzen Batzen, heißt es jedenfalls, nur, der ist mit seinem Geld nich so freigiebig.«
»Sind die beiden gemeinsam an Gold gekommen?«
»Da bin ich überfragt. Wahrscheinlich ja. So unzertrennlich, wie die beiden sind. Wie David und Jonathan, so sind die.«
Adelia blickte zu dem hohen Tisch, wo David und Jonathan saßen, gut aussehend, selbstbewusst; ungezwungen plauderten sie über den Kopf der Priorin hinweg miteinander.
Und wenn es
zwei
Mörder waren, die gemeinsam ihre Taten begingen … Der Gedanke war ihr noch nicht gekommen, dabei war er gar nicht so abwegig. »Sind sie verheiratet?«
»Nur Gervase, mit einem bedauernswerten, geifernden Weib, das nur zu Hause hockt.« Der Schuhmacher freute sich, sein Wissen über bedeutende Männer zum Besten geben zu können. »Sir Joscelin macht der Tochter des Barons von Peterborough den Hof. Die würden ein gutes Paar abgeben.«
Ein lauter Hornstoß ließ jedes Gespräch verstummen. Die Gäste setzten sich auf. Das Essen wurde hereingetragen.
Am
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