Die Totenmaske
Abformsilikon, weil man diese Abgüsse mehrmals benutzen konnte. Gipsabgüsse stellten hingegen verlorene Formen dar, weil sie nur ein einziges Mal ausgegossen werden konnten. Für ihre Kunstwerke reichten diese Anfertigungen. Während die Gipsmasse langsam die passende Konsistenz erreichte, ließ Zoe ihre Gedanken schweifen. Ihre Arbeit hatte etwas Meditatives, umso störender empfand sie das Geräusch von Füßen, die die Treppenstufen heraufstiegen. Wenig später knarrten die Bodendielen unter den resoluten Schritten ihrer Mutter.
»Kannst du dich nicht ein Mal bemühen, etwas in allgemeinverständlichen Worten statt in Fachlatein zu erklären?«
Mit diesen Worten betrat Isobel das Atelier.
»Ich habe die Frage der Kundin beantwortet«, erwiderte Zoe.
»Ein bisschen einfühlsamer könntest du dabei schon vorgehen, sonst vergraulst du noch die Leute!«
»Bitte, wir müssen ganz sicher nicht um Kunden werben. Sie kommen von ganz allein hierher.«
»Es schickt sich einfach nicht für ein seriöses Unternehmen.« Isobel klang deutlich genervt. »Außerdem wolltest du noch Unterlagen am Rathaus in den Briefkasten werfen. Es wird bald dunkel, und ich finde es unangebracht, wenn du bei Nacht unterwegs bist.«
Innerlich zuckte Zoe zusammen. Wie kam sie darauf? Sie erledigte grundsätzlich alles Geschäftliche am Tag. Sie konnte die Blicke förmlich in ihrem Rücken spüren. Schnell wischte sie den Gedanken beiseite, ihre Mutter könnte möglicherweise etwas von ihren nächtlichen Ausflügen ahnen. Sicher ging es ihr nur um die kleingeistigen Moralvorstellungen einiger Spießbürger im Ort. Um Isobels Ansichten von Schicklichkeit zu diskutieren, fehlte Zoe eindeutig die Geduld. Davon hatte sie im Laufe ihrer Kindheit genug gehört, wenn sie täglich den Predigten ihrer Mutter auf der Kanzel beiwohnen musste. Isobel war Laientheologin, hatte sich im Laufe der Jahre eine Unabhängigkeit gegenüber der katholischen Kirche geschaffen, die Zoe in vielerlei Hinsicht zu weltlich erschien. Während Isobel für ihre treu ergebenen Gemeindemitglieder den Inbegriff von Charisma darstellte, schüttelten die restlichen Einwohner wegen der verrückten Betschwester den Kopf. Den unermüdlichen Drang, zu missionieren, hatte Isobel dennoch beibehalten. Rückblickend betrachtet, hatte Zoe das Gefühl, mehr Zeit ihres Lebens in der Kirche als sonst wo verbracht zu haben. Doch der Plan, aus ihr eine würdige Nachfolgerin zu machen, war in dem Moment gescheitert, als Zoes Bewusstsein erwachte. Ihr war klar, dass ihre Mutter deswegen enttäuscht war, doch konnte sie das nicht ändern. Zoe zog es vor, zu schweigen. Sie hob die Schüssel an und goss vorsichtig die Negativform mit Gipsmasse aus.
Die Hand ihrer Mutter legte sich mit Druck auf ihre Schulter. Zoe zuckte kaum merklich zusammen und kleckerte über den Rand der Maske. Schnell griff sie nach einem Tuch und wischte den Fleck vom Tisch. Dabei ärgerte sie sich mehr über die Geste, mit der Isobel unmissverständlich verdeutlichen wollte, dass Schweigen keine Antwort war. Seltsam. Damit hatte ihre sonst nicht gerade vor Emotionen übersprühende Mutter erst vor einer Weile angefangen. Körperkontakte begrenzten sich bei ihr in der Regel auf ein sachtes Streicheln über den Kopf – sogar wenn Zoe sich als Kind die Knie aufgeschlagen hatte. Für Umarmungen und Kuschelmomente war stets ihr Vater zuständig gewesen. Ein Hauch von Trauer bemächtigte sich ihrer bei diesem Gedanken. Die Erinnerung an die warmen braunen Augen ihres Vaters ließ ihren Magen sich schmerzlich zusammenziehen. Im selben Moment verspürte sie einen Anflug von Wut auf ihre Mutter, die seither so tat, als wäre nichts geschehen. Deren Kälte sich durch das ganze Haus zu ziehen schien. Statt tröstender Worte fand sie nur Grund zur Kritik. Sogar ihre Berührung schien nichts weiter als eine Forderung zu bergen. Vermutlich ging es ihr wie so oft um nichts anderes, als Zoe zu bekehren, sie auf den rechten Pfad im Schoße von Isobels kleiner Gemeinde zu führen.
Wenn sie von der anderen Zoe gewusst hätte, hätte sie es noch als Besorgnis deuten können. Aber das war unmöglich. Ihre Mutter ging unmittelbar nach Sonnenuntergang zu Bett und stand mit den Hühnern wieder auf. Sie hätte problemlos in einem Zeitalter ohne technischen Fortschritt oder Elektrizität leben können. Manchmal erweckte sie sogar den Eindruck, als lebte sie tatsächlich in einer eigens für sie kreierten Vergangenheit.
Seit Jahren verließ
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