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Die Totenmaske

Die Totenmaske

Titel: Die Totenmaske Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Henke
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jemals wieder begegnen wollte. Anderseits, was sollte ihr schon passieren? Der Kerl hielt sich wieder in der Stadt auf. Na und? Zoe konnte unmöglich für den Rest ihres Lebens mit eingezogenem Kopf durch die Gegend laufen, weil sie ständig befürchtete, auf ihr fleischgewordenes Trauma zu treffen. Sie musste sich ihm stellen, sich klarmachen, dass er ihr nichts mehr anhaben konnte. Schließlich war sie keine fünfzehn mehr, und auf keinen Fall war sie hilflos.
    Die hell erleuchteten Zeltkuppeln warfen in der Ferne ihren neongrünen Schein in die Nacht. Eine Lasershow ließ mit zuckenden Blitzen in allen Farben den Sternenhimmel verblassen. Inzwischen kreuzten immer mehr Menschen ihren Weg, als würden sie von den Außenstrahlern auf magische Weise angezogen. Zoe beschleunigte ihre Schritte, um einen günstigen Platz in der Warteschlange zu ergattern. Es war bereits weit nach Mitternacht. Demnach dürfte es nicht allzu lange dauern.
    Sie kam hinter der Menschenwand zu stehen. Ein Gemisch aus verschiedenen Parfüms hüllte sie ein. Vereinzelte Gesprächsfetzen drangen zu ihr herüber. Sie reckte den Hals, um etwas erkennen zu können. Im Moment herrschte Stillstand in der Warteschlange. Anscheinend ließen sie erst wieder Leute ein, sobald sich der Laden ein wenig geleert hatte. Weiß Gott, nach welchen Regeln Türsteher verfuhren! Konnte ihr auch egal sein. Sie kramte in ihrer Handtasche nach ihrem VIP-Ausweis, den sie vor einer Weile vom Ladenbesitzer erhalten hatte. Für gewöhnlich spielte sie sich nicht gern in den Vordergrund, sondern wartete wie alle anderen, bis sie an der Reihe war. Doch heute fühlte sie sich von einer seltsamen Unruhe getrieben. Gerade als Zoe aus der Reihe ausscheren wollte, wurde ihre Aufmerksamkeit auf ein hitziges Wortgefecht in ihrer Nähe gelenkt.
    Auf der anderen Straßenseite drängte ein Typ ein Mädchen in eine Ecke. Zoe sah genauer hin, um die Lage beurteilen zu können. Mädchen wurden andauernd belästigt, besonders auf dem Vorplatz. Hier wimmelte es von Betrunkenen, Drogensüchtigen oder Gestalten, die ihre Aggressionen an Schwächeren ausließen, weil ein Türsteher sie nicht hineingelassen hatte. Manchmal wirkte auch eine harmlose Balgerei aus der Entfernung wie ein Übergriff. Harmlos sah das jetzt allerdings nicht aus. Das Mädchen kreischte auf. Keine Spur von albernem Gehabe, sondern ein zutiefst verängstigter Klang, der davon zeugte, dass die Grenze zwischen Spaß und Ernst deutlich überschritten worden war. Der Mann fühlte sich offenbar davon angestachelt und presste grob seine Hand auf den Mund des Mädchens. Einige Köpfe wandten sich zu der Szene hinüber, doch niemand schien auf die Idee zu kommen, einzugreifen. Stattdessen warteten sie mit teilnahmslosen Mienen darauf, dass es in der Warteschlange voranging. Nicht einmal als Zoe ihre Ellbogen einsetzte, zog das mehr als ein Murren nach sich, ebenso wenig wie die Tatsache, dass sie sich, ohne darüber nachzudenken, durch die eng aneinandergepressten Leiber zwängte.
    Das Wimmern des Mädchens erstarb unter dem groben Kuss ihres Peinigers.
    »Hey!« Zoe blieb in sicherer Entfernung stehen.
    Der Kopf des Mannes schwang zu ihr herüber. Boris Nauen. Wie vom Donner gerührt, hielt Zoe einen Augenblick inne, um sich zu fassen. Das konnte doch nicht wahr sein! Zwar überraschte es nicht wirklich, diesen Kerl hier anzutreffen. Wo sollte sich ein Müßiggänger wie er auch sonst herumtreiben? Schlimmer war die Gewissheit, dass er sich in keinster Weise geändert hatte. Daran hatte offenbar das teure Privatinternat auch nichts ändern können. Immer noch stellte er deutlich jüngeren Mädchen nach. Okay, Zoe war selbst mit sechzehn in den drei Jahre älteren Boris verknallt gewesen. Aber das war etwas anderes. Eine Schwärmerei, bei der sie sich kaum Gedanken darüber gemacht hatte, wie es ablaufen würde, wären sie sich nähergekommen. Schon gar nicht hatte sie es sich so vorgestellt, wie es dann tatsächlich vonstattengegangen war. Das hier kam ihr falsch vor. Für gewöhnlich waren in der Schule die jüngeren Mädchen Luft für die beinahe erwachsenen Oberschüler. Es musste befremdlich sein, wenn der aus der Ferne Angehimmelte plötzlich offensichtliches Interesse zeigte oder sogar Forderungen stellte. Das ging gar nicht. Jemand, der gern Abenteuerromane las, wollte noch lange nicht im wahren Leben gegen Drachen kämpfen.
    Zoe wusste nur zu gut, wie die Kleine sich fühlte. Mitleid wallte in ihr auf. Entschlossen

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