Die Totenmaske
Isobel kaum noch das Haus, außer um den steinigen Pfad zu der kleinen Kirche hinaufzusteigen. Extra dafür hatte sie sich auch an diesem Nachmittag ein formloses graues Kleid übergeworfen und nestelte nun am Band des hohen Stehkragens herum. Danach fuhr sie sich mit einer Hand über ihr wie üblich straff zusammengebundenes Haar. Dabei wirkte sie beinahe betroffen.
In einem ihrer bunten Kleider hätte sie sicherlich hübsch ausgesehen. Doch diese vermotteten in einem antiken Kleiderschrank.
Wie sooft fragte Zoe sich, wessen Welt wohl aus den Fugen geraten war: die, welche die Mutter sich für ihre Tochter wünschte, oder jene, die Isobel für sich selbst erschaffen hatte.
Sie hielt in ihrer Arbeit inne. »Meine Güte, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert! Die Welt hat sich verändert. Es ist nichts Außergewöhnliches daran, als Frau nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs zu sein!«
»Das sehe ich anders«, entgegnete Isobel. »Was verstehst du schon von der Welt, junge Dame?« Sie deutete anklagend auf die Büste, der Zoe sich gerade zugewandt hatte, solange der neue Ausguss trocknete.
»Blasphemie.«
Ein Wort wie ein Donnerschlag aus dem Mund eines Moralapostels gegenüber dem gefallenen Engel.
Zoe sog tief die Luft durch die Nase. »Wie oft noch, Mutter? Das ist Kunst«, erwiderte Zoe ungehalten. »Ich habe dir mehrfach angeboten, Skulpturen oder Büsten für deine Kapelle anzufertigen.«
»Du sollst dir kein Bildnis machen.« Isobel verschränkte ihre Arme vor der Brust. Der genervte Unterton in ihrer Stimme verdeutlichte, dass sie sich zum x-ten Mal wiederholte.
Nicht schon wieder diese alte Leier! Es kam wirklich einer Gabe gleich, wie schnell ihre Mutter innerhalb eines Satzes das Thema wechselte. Letztlich ging es ihr ohnehin darum, das vermeintlich verlorene Schäfchen einzufangen.
Doch Zoe hatte keine Lust, zu streiten. Viel zu sehr beschäftigten die Geister ihrer Vergangenheit sie. Unter keinen Umständen konnte sie ihrer Mutter erzählen, wen sie am Nachmittag in der Stadt gesehen hatte. Sie würde komplett ausrasten, und Zoe wollte auf keinen Fall dabei sein, wenn das geschah. Irgendwann würde einer ihres Gemeindemitglieder schon Bericht erstatten. Wie üblich gelang es Isobel, sie mit wenigen Worten zu provozieren. Das funktionierte immer wieder, auch wenn Zoe noch so sehr versuchte, die Nörgeleien ihrer Mutter nicht zu beachten.
»Ich dachte, damit sei Gott gemeint«, gab sie trotzig zurück. Natürlich wusste sie genau, wie es gemeint war, schließlich hatte sie ihre ganze Kindheit täglich in der Kirche gehockt, den Predigten gelauscht und sich danach von den Gemeindemitgliedern über den Kopf streicheln lassen. Manche trugen dabei solch entrückte Mienen, dass Zoe gar nicht anders konnte, als die bewundernde Aufmerksamkeit über sich ergehen zu lassen. In den Augen der Leute galt sie als die Nachfolgerin einer begnadeten Predigerin. Dabei hätte sie sich am liebsten verkrochen, was sie auch tat, sobald sie alt genug war, um sich durchzusetzen.
»Wie kannst du es wagen?! Du weißt genau, dass unsere Gemeinde mit aller Kraft versucht, Gottes Wort richtig zu interpretieren! Wir wissen, dass er ebenso kein Bildnis von seinen Vertretern auf Erden wünscht.« Isobel stellte sich vor sie, ein unheilvolles Glimmen in den Augen. »Aber bitte, wenn du meinst, es besser zu wissen, dann mach doch weiterhin, was du willst!«
Zoes Magen zog sich zusammen. Unfassbar, dass es ihrer Mutter nach all den Jahren immer wieder gelang, Druck auf sie auszuüben! Sie schluckte wütend die aufkommenden Tränen hinunter. »Manchmal bin ich wirklich versucht, deinen Vorschlag in Erwägung zu ziehen.«
Um die Genugtuung in Isobels Gesicht nicht länger ertragen zu müssen, wandte sie sich um, nahm ihre Jacke vom Stuhl und zog sie sich über.
»Das glaube ich dir nicht, Kind. Einst war ich wie du, und du wirst eines Tages so sein wie ich. Das ist ein Gesetz der Natur.« Isobel klang versöhnlich.
»Wie du meinst.« Zoe verkniff sich Widerworte und verdrehte stattdessen die Augen.
Man konnte niemand vom Gegenteil überzeugen, wenn er felsenfest auf seiner Meinung beharrte. Isobel glaubte bedingungslos jedes Wort, das sie von sich gab, und eins wollte Zoe sicher nicht – so sein wie ihre Mutter. Sie hatte schon Schwierigkeiten mit der Vorstellung, dass Isobel als junge Frau auch nur annähernd ihr ähnliche Charakterzüge aufgewiesen hatte. Sie blieb an der Tür stehen, bis ihre Mutter an ihr
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