Die Totensammler
wäre noch schlimmer; mit jemandem an der Seite durch die Stadt zu fahren, der jede seiner Aktionen beurteilt. Er weiß, er würde nur ein paar hundert Meter schaffen, bevor er sich von oben bis unten vollkotzen würde. Nein, er braucht keinen Führerschein, solange ihn niemand anhält, und dafür gibt es keinen Grund. Er ist ein umsichtiger Fahrer, und der Körper im Kofferraum macht auch keinen Lärm. Er weiß nicht, ob es an ihm oder am Auto liegt, dass die Klimaanlage nicht läuft. Immerhin ist es zehn Jahre alt. Die Straßen, die er entlangfährt, sind fast menschenleer. Und alle Gesichter sehen gleich aus. Es gibt zwei Katego rien von Häusern – hübsche, in denen er gerne wohnen würde, und hässliche. Sein letztes Domizil gehörte in letztere Kategorie, doch von dort ist er jetzt in das Haus gezogen, in dem ihn seine Mutter – Gott hab sie selig – großgezogen hat. Es ist zwar nicht schön, aber es ist sein Zuhause, und das hat etwas für sich. Auch wenn er nicht weiß, was.
Die Auffahrt, die zu dem Haus führt, wurde nie asphaltiert. Sie besteht aus losen, zahngroßen Kieselsteinen, die im Laufe der Jahre in den Sand gedrückt wurden. Der Sand hüllt den Wagen in eine Wolke und senkt sich auf das warme Metall, während er zum Stehen kommt. Summend bleibt Adrian sitzen und wartet, bis die Luft wieder klar ist, denn er möchte nicht, dass der Staub an seinem feuchten Körper kleben bleibt und es ihn noch heftiger juckt. Kurz darauf herrscht Stille. Es gefällt ihm hier draußen – die Abgeschiedenheit, die Ruhe –, hier gibt es keine Einbrüche, keine lauten Autos und auch keine unhöflichen Leute.
Der Daumen, den er aus Coopers Haus mitgenommen hat, schwimmt in einem Glas auf dem Beifahrersitz. In einer Flüssigkeit voller kleiner grauer Partikel, die man nur erkennen kann, wenn man es gegen das Licht hält. Er schüttelt das Glas, und die Partikel wirbeln wie in einer Schneekugel herum, doch ist der Anblick nicht halb so schön. Der Daumen bewegt sich kaum. Der Nagel ist länger als seiner, und ihm fällt ein, dass die Nägel eines Menschen nach dem Tod angeblich noch weiterwachsen, allerdings ist er sich nicht sicher, ob das stimmt. Es ist wohl so, dass die Länge der Nägel unverändert bleibt und die Finger und Zehen schrumpfen, weil der Körper austrocknet. Cooper wüsste Bescheid. Cooper ist Professor und ein kluger Mensch, er weiß noch viel mehr. Adrian hat keine Ahnung, ob Cooper den Daumen einem Mann oder einer Frau abgeschnitten hat. Auf dem Nagel ist zwar kein Lack, doch das hat nichts zu bedeuten. Er wurde sauber von der Hand abgetrennt; offensichtlich ist der Knochen nicht gesplittert, mit Sicherheit kann man das nur unter dem Mikroskop erkennen. Dafür muss ein ziemlich scharfer Gegenstand benutzt worden sein. Er weiß, dass Serienmörder gerne Momente behalten und … und, nein, nicht Momente, und auch nicht Momentos – er kennt den Ausdruck, er hat ihn zigmal gelesen, doch jetzt gerade fällt er ihm nicht ein. Was auch immer; er weiß, dass Serienmörder es behalten, in der Regel Schmuck- oder Kleidungsstücke, die sie bei sich zu Hause aufbewahren. Es war unvorsichtig von Cooper, einen ganzen Daumen mit zunehmen, vor allem ihn bei sich im Regal aufzustellen. Adrian steigt aus dem Wagen und setzt das Glas auf dem Dach ab, wo es auf dem Staub einen ringförmigen Abdruck hinterlässt. Die Luft ist vom Zirpen der Grashüpfer und vom Gezwitscher der Vögel erfüllt. Er geht zum Heck des Wagens und lässt den Kofferraum aufspringen.
Cooper Riley hat von dem Sturz nach der Elektroschocker-Attacke Schürfwunden im Gesicht, und anscheinend hat er im Kofferraum um sich geschlagen und sich dabei verletzt. Sein Gesicht ist aufgedunsen, und seine auf dem Rücken gefesselten Handgelenke sind geschwollen und blau angelaufen. Das nächste Mal wird Adrian den Kofferraum vorher mit Decken auslegen. Er lernt schließlich dazu. Cooper wäre stolz auf ihn.
Von seinem Mundwinkel hängt ein Speichelfaden. Winzige Klumpen Dreck haben sich darin verfangen. Adrian wischt sie fort – Cooper weiß das bestimmt zu schätzen –, dann putzt er seine Hand an dessen Hemd ab. Er hat hoffentlich nichts dagegen. Ihm ist klar, dass diese ganze Schinderei, die vor ihm liegt, ein einziger gewaltiger Lernprozess sein wird. Was sich erneut zeigt, als er merkt, wie viel schwerer es ist, einen Mann aus dem Kofferraum zu hieven, als ihn hineinzubefördern. Er zerrt Cooper über den Rand, und sein schlaffer Körper bleibt
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