Die Totensammler
versteckter Kamera. Die Aktenmappe, die Schroder mir gegeben hat, liegt die ganze Zeit ungeöffnet auf meinem Schoß. Der grüne Umschlagdeckel wird von zwei Gummibändern zusammengehalten; hin und wieder zupfe ich daran. Es dauert knapp dreißig Minuten bis zu der Haltestelle, an der ich aussteigen muss. Von dort sind es fünf Minuten zu Fuß, doch in der Hitze brauche ich acht.
Normalerweise kann man zu dieser Jahrszeit keine fünfzig Meter laufen, ohne an jemandem vorbeizukommen, der den Rasen mäht oder Blumen pflanzt, doch bei diesem Wetter haben sich alle Aktivitäten in die Abendstunden verlagert, wenn die Hitze abgeklungen ist. Und so lege ich den Weg zu meinem Haus in verhältnismäßiger Stille zurück. Neunundneunzig Prozent meines Viertels sind unverändert. Das restliche Prozent besteht aus kürzlich verkauften Grundstücken mit nagelneuen Häusern. Die Sonne röstet die Umgebung, mich eingeschlossen, und Schroders Banknoten sind fast geschmolzen, als ich endlich mein Haus erreiche.
Noch nie hat mich sein Anblick so froh gemacht. Ich dach te, ich würde es nie wiedersehen, sondern das Gefängnis in einem Leichensack verlassen, nachdem man mich dort niedergestochen hat. Das Haus hat drei Schlafzimmer, ein Dach aus schwarzen Betonziegeln und einen Garten, der noch nie so gepflegt war wie jetzt. Meine Eltern haben sich darum gekümmert. Ich hole den Schlüssel hervor, den sie beim Haus für mich versteckt haben. Dann trete ich ein, und ich habe tatsächlich das Gefühl heimzukehren. Das Haus wirkt verlassen, aber es ist schön, in ein Zimmer zu kommen, das keine Betonwände hat. Der Kühlschrank ist mit frischen Lebensmitteln gefüllt, und auf dem Tisch steht eine Vase mit Blumen; daran lehnt eine Karte mit der Aufschrift »Willkommen zu Hause« . Ich rufe nach meinem Kater. Er lässt sich nicht blicken, aber auf dem Boden steht ein halb leerer Fressnapf; meine Eltern haben ihn heute Morgen also gefüttert. Ich stelle die Blumen nach draußen, bevor ich noch Heuschnupfen kriege. Während ich im Gefängnis war, wurde bei mir eingebrochen, doch es wurde nichts gestohlen, und das eingeschlagene Fenster ist mittlerweile ersetzt. Ich lasse Schroders Akte auf dem Tisch liegen und dusche ausgiebig, doch egal wie stark ich auch reibe, das Gefühl von Gefängnis auf der Haut geht nicht fort.
Anschließend betrachte ich mich gründlich im Spiegel. Seit vier Monaten habe ich mich nicht mehr gesehen. Ich habe abgenommen. Als ich auf die Waage steige, stelle ich fest, dass ich fast zehn Kilo leichter bin. Mein Gesicht ist schmaler geworden, und an einigen Stellen sprießen die ersten grauen Bartstoppeln, passend zum Grau an den Schläfen. Na klasse – bald sehe ich aus wie mein Vater. Meine Augen sind leicht gerötet. So habe ich letztes Jahr ausgesehen, wenn ich getrunken hatte.
Ich ziehe ein paar Sommersachen über, und sofort fühle ich mich entspannter. Mehr als alles andere möchte ich losfahren und meine Frau besuchen. Bridget ist seit drei Jahren in einem Pflegeheim. Sie sitzt in einem Stuhl und starrt auf die Welt hinaus, sie spricht nicht und bewegt sich kaum, und keiner weiß genau, was von ihr noch am Leben ist. Sie hat Fortschritte gemacht – oder zumindest gibt es die Hoffnung auf Fortschritte. Bei dem Unfall, der sie beinah getötet hätte, hat sie Knochenbrüche und Fleischwunden erlitten, sie lag acht Wochen im Koma, außerdem wurde ihre Lunge durchstochen und ein Wirbel zertrümmert. Es hieß, sie habe Glück gehabt, dass sie noch am Leben sei. Meine Tochter hatte nicht so viel Glück. Aber niemand hat mir je ins Gesicht gesagt, dass meine Tochter das Pech hatte zu sterben. Die Leute reden kaum noch von ihr.
Schroders Geld würde nur für die halbe Strecke zum Pflegeheim reichen. Also muss ich auf meine Eltern warten. Ich habe kein eigenes Auto – es wurde letztes Jahr bei dem Unfall beschädigt, der zu meiner Verurteilung geführt hat. Eigentlich wollten mich heute meine Eltern abholen, doch sie waren verhindert. In der Haft haben sie mich jede Woche zweimal besucht, aber am Tag meiner Entlassung sind sie beschäftigt. Dad hat einen Termin bei einem Spezialisten im Krankenhaus, um die Art von Prostatabeschwerden behandeln zu lassen, die Männer in seinem Alter haben, Beschwerden, die man, wenn ich sechzig bin, mit einer Pille kurieren wird.
Es ist zu heiß, um wieder rauszugehen, und ironischerweise werde ich nach vier Monaten, in denen ich mir nichts sehnlicher gewünscht habe, als
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