Die Totensammler
und die Sterne schieben sich in ihr Blickfeld und drehen sich über ihr. Sie versucht, ihren Sturz mit den Händen abzufangen, schlägt aber mit dem Rücken trotzdem auf den Asphalt.
Die Wagentür knallt zu, der Motor springt an. Er kurbelt das Fenster herunter und brüllt sie erneut an. Doch bei dem Motorenlärm und dem Rauschen des Blutes in ihren Ohren kann sie ihn nicht verstehen. Er gibt Gas und rast Richtung Ausfahrt, streift die Wand und schrammt am Müllcontainer entlang. Der Container hinterlässt einen langen Kratzer am Wagen, und sie rechnet damit, dass er anhält und sie erneut beschimpft. Doch er brettert hinaus auf die Straße, Bremsen quietschen, und jemand brüllt »Arschloch « .
Weinend und wütend hockt sie auf dem Boden, ihre Handtasche neben sich, den Inhalt über den Asphalt verstreut. Ihr erster Impuls ist, hineinzugehen und ihrem Chef zu erzählen, was passiert ist, doch er würde nur sagen, dass sie sich das selbst eingebrockt habe. Außerdem sind bei ihrem Chef stets die anderen schuld, er würde bloß glauben, dass sie ihm die Verantwortung dafür zuschieben will. Sie rappelt sich wieder auf und betrachtet ihre Handflächen. Die rechte ist aufgeschürft, und die Haut hat sich nach oben gewölbt. Wenigstens blutet es nicht.
Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Arschloch«, flüstert sie. Ein warmer Wind weht ihr entgegen, und die aufgeschürften Hautstellen an ihren Handflächen blähen sich wie kleine Fallschirme. Sie räumt ihre Tasche wieder ein und durch wühlt sie nach ihren Schlüsseln, aber sie sind nicht da. Erneut geht sie in die Hocke. Sie hatte sie vorhin doch in der Hand, oder? Sie ist sich nicht sicher. Als sie sich umdreht, entdeckt sie die Schlüssel unter dem Hinterrad eines dreckigen, ramponierten Toyota. Sie beugt sich hinunter und greift danach. In dem Moment kommt jemand in ihre Richtung gerannt. Als sie aufschaut, sieht sie vor einem der Lichter die Silhouette eines Mannes. Gott sei Dank, es eilt ihr jemand zu Hilfe.
»Danke …«, ist alles, was sie noch sagen kann. Denn schon stürzt sich der Mann auf sie, und sie verspürt nichts als blankes Entsetzen.
Sie hat keine Ahnung, was los ist. Sie versucht sich zur Wehr zu setzen, doch er knallt ihren Kopf mit voller Wucht auf den Boden. Sie merkt, wie alles um sie herum langsam verschwindet. Vergeblich kämpft sie dagegen an. Sie hat das Gefühl, als würde sie in einem Traum versinken. Ihr Großvater lächelt ihr zu, der alte Mann aus dem Wagen lässt einen Kaffee fallen und wird von ihrem Chef blöd angemacht, ihr Freund will bei ihr übernachten … und dann denkt sie an den Teufel, der sich in Christchurch niederlässt und all seine Freunde in die Stadt holt. Sie gelangt zu dem Schluss, dass das nicht wirklich passiert. Trotzdem verschwindet alles um sie herum.
Als sie wieder zu sich kommt, hat sie jedes Zeitgefühl verloren. Genau wie beim Unfall letztes Jahr, als sie von einem Wagen angefahren wurde. Sie hat keinerlei Erinnerung daran. Weder an die Stunde vor dem Unfall noch an den darauffolgenden Tag. Diesmal kann sie sich erinnern. Sie liegt auf einer Matratze, doch als sie sich auf die Seite rollt, geht die Matratze neben ihr einfach weiter. Ihre Handgelenke tun schrecklich weh, sie sind auf dem Rücken an ihre Beine gefesselt. Aber das Schlimmste sind die Kopfschmerzen, dazu der Druck hinter den Augen, wahrscheinlich werden sie nur noch von dem Gegenstand, der sie bedeckt, in ihren Höhlen gehalten. Sie hat Durst und Hunger. Die Luft ist heiß und stickig. Es muss über dreißig Grad sein. Außerdem ist es stockfinster. Das hier ist definitiv kein Krankenhaus. Man hat sie gefesselt, damit sie in diesem Ofen vor sich hin schmort.
Schritte. Das Quietschen einer Holzdiele. Ein Riegel wird zur Seite geschoben, die Tür öffnet sich. Jemand kommt näher, sie kann ihn atmen hören. Sie will etwas sagen, doch sie kann nicht. Sie denkt an ihre Eltern, an ihre Freunde und an ihren Freund. Sie denkt an den alten Mann im Café, und sie schwört sich, dass sie, sollte sie das hier überstehen, nie wieder jemandem helfen wird.
»Trink.«
Eine Männerstimme. Der Gegenstand, der ihren Mund bedeckt, wird entfernt. Es muss irgendwas geben, das sie sagen kann, um hier rauszukommen. Etwas, das ihn dazu bringt, sie gehen zu lassen.
»Bitte«, schreit sie, »bitte tun Sie mir nicht weh. Ich flehe Sie an«, sagt sie, während ihr die Tränen übers Gesicht laufen. Sie kann sich nicht erinnern, je so heftig geweint
Weitere Kostenlose Bücher