Die Totgesagten
dem Wunsch, sich aufzulehnen. In den letzten Monaten war die Stimmung im Haus ziemlich gedrückt gewesen, viel Unausgesprochenes lag in der Luft und wartete darauf, im richtigen Moment herauszuplatzen. Da Anna noch immer nicht aus ihrem Schockzustand herausgefunden hatte, behandelte Erica sie wie ein rohes Ei. Sie hatte panische Angst, etwas Falsches zu sagen oder zu tun.
»Sind die Kinder brav in den Kindergarten gegangen?«
»Na klar, kein Problem.« Erica ließ Adrians kleinen Anfall bewusst unerwähnt. Fast alle praktischen Dinge blieben an ihr hängen. Sobald die Kinder das geringste Theater machten, zog sich Anna zurück. Sie war wie ein ausgewrungener Lappen, hing kraftlos herum und suchte nach Halt. Erica machte sich große Sorgen.
»Reg dich bitte nicht auf, wenn ich das jetzt sage, Anna, aber … solltest du nicht vielleicht mal mit jemand sprechen? Wir haben doch die Nummer von diesem Psychologen, der so gut sein soll. Ich glaube, es würde dir wirklich …«
Anna fiel ihr barsch ins Wort. »Nein. Damit muss ich alleine fertig werden. Es ist alles meine Schuld. Ich bin eine Mörderin. Ich kann mich nicht einfach bei einem Wildfremden ausheulen.« Ihre Hand umklammerte die Kaffeetasse so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Anna, ich weiß, wir haben tausendmal darüber gesprochen, aber ich sage es noch einmal: Du hast Lucas nicht ermordet, es war Notwehr. Du musstest nicht nur dich selbst verteidigen, sondern auch deine Kinder. Das hat niemand bezweifelt, du wurdest in allen Punkten freigesprochen. Wenn du es nicht getan hättest, hätte er dich umgebracht.«
WährendErica sprach, zuckten Annas Gesichtsmuskeln. Maja spürte die Spannung im Raum und begann zu quengeln.
»Ich kann nicht mehr«, stieß Anna zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich gehe wieder ins Bett. Holst du die Kinder ab?« Sie stand auf und ließ Erica allein in der Küche zurück.
»Ja, ich hole die Kinder ab«, murmelte Erica. Tränen schossen ihr in die Augen. Bald war sie mit ihrer Kraft am Ende. Irgendjemand musste etwas tun.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie wählte eine Nummer, die sie auswendig kannte. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
Hanna ging geradewegs in ihr neues Zimmer und packte ihre Sachen aus. Patrik klopfte an die Tür zum Kämmerchen von Martin Molin.
»Herein.«
Ohne Umschweife setzte sich Patrik vor Martins Schreibtisch. Die beiden arbeiteten viel zusammen und besuchten sich oft gegenseitig in ihren Büros.
»Ich habe gehört, dass ihr zu einem Verkehrsunfall musstet. Tote?«
»Ja, die Fahrerin. Es war nur ein Fahrzeug in den Unfall verwickelt. Ich habe die Frau wiedererkannt. Es war Marit, die mit dem Laden im Affärsvägen.«
»Scheiße«, seufzte Martin. »So verdammt überflüssig. Musste sie einem Reh ausweichen oder so?«
Patrik zögerte. »Warten wir ab, was die Techniker zu sagen haben. Ihre Einschätzung und der Obduktionsbericht dürften uns eine klare Antwort auf diese Frage geben. Jedenfalls roch der ganze Wagen nach Alkohol.«
»Scheiße«, wiederholte Martin. »Mit anderen Worten, Trunkenheit am Steuer. Ich glaube nicht, dass sie jemals auffällig geworden ist. Entweder ist sie zum ersten Mal betrunken gefahren, oder sie ist noch nie erwischt worden.«
»Hm«,murmelte Patrik zögernd. »Könnte sein.«
»Aber?« Martin verschränkte die Hände hinterm Kopf. Seine Haare hoben sich leuchtend rot von den weißen Handflächen ab. »Ich sehe dir doch an, dass irgendetwas in dir arbeitet. So gut kenne ich dich inzwischen.«
»Ach, ich weiß auch nicht«, erwiderte Patrik. »Ich habe nichts Konkretes in der Hand. Nur so ein Gefühl, als ob hier etwas nicht stimmen würde. Aber ich kann es nicht genau benennen.«
»Normalerweise liegst du mit deinem Bauchgefühl ja richtig.« Martin schaukelte mit seinem Stuhl. »Aber wir warten besser auf den Bericht. Sobald die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin die Sache untersucht haben, wissen wir mehr. Vielleicht finden die ja eine Erklärung, warum dir das Ganze so merkwürdig vorkommt.«
»Du hast recht.« Patrik kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Aber … Nein, du hast recht, es wäre sinnlos, weitere Spekulationen anzustellen. Wir müssen uns auf die Dinge konzentrieren, die wir jetzt tun können. Leider bedeutet das auch, dass wir Marits Angehörige informieren müssen. Weißt du, ob sie Familie hat?«
Martin runzelte die Stirn. »Sie hat eine Tochter im Teenageralter und lebt mit einer Freundin zusammen.
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