Die Totgesagten
Brustkorb. Ihre Augen starrten ihn an. Tot, blind. Blut war aus ihrem Mund gelaufen und hatte ihre Kleidung rot gefärbt. Er glaubte, den Vorwurf in ihren Augen zu sehen. Warum hast du nicht auf mich gehört? Warum habt ihr euch nicht vonmir beschützen lassen? Warum? Warum? Du Unglücksrabe. Sieh mich doch an.
Schluchzend schnappte er nach Luft, um Sauerstoff durch seine zugeschnürte Kehle zu pressen. Irgendjemand rüttelte am Türgriff. Ein weibliches Gesicht starrte ihn entsetzt an. Die Frau bewegte sich merkwürdig schwankend. Erstaunt erkannte er den Geruch der anderen wieder. Die nur in seiner Erinnerung lebte. Ihr Mund, ihre Haut und ihre Kleider hatten immer den gleichen scharfen Geruch verströmt. Nachdem der zarte Duft verschwunden war. Er wurde aus dem Auto gezerrt. Die Frau hatte das andere Auto gefahren. Jetzt ging sie auf die andere Seite, um seine Schwester herauszuziehen. Er prägte sich ihr Gesicht ein.
Nachher waren so viele Fragen gekommen. Seltsame Fragen.
»Woher kommt ihr?«, wurden sie gefragt. »Aus dem Wald«, sagten sie und verstanden nicht, warum sich niemand mit dieser Antwort zufriedengeben wollte. »Ja, aber woher seid ihr denn vorher gekommen, vor dem Haus im Wald?« Sie begriffen nicht, was diese Leute von ihnen wollten. »Aus dem Wald.« Eine andere Antwort konnten sie nicht geben. Natürlich hatte er manchmal an diesen salzigen Geruch und an die kreischenden Vögel gedacht. Aber das erwähnte er nie. Eigentlich kannte er nur den Wald.
In den Jahren nach den Fragen versuchte er meistens, nicht daran zu denken. Wenn er gewusst hätte, wie kalt und böse die Welt da draußen war, hätte er nie darum gebettelt, den Wald verlassen zu dürfen. Er wäre liebend gern in dem kleinen Haus geblieben, mit ihr, mit seinem Schwesterchen, in ihrer Welt, die ihm im Nachhinein so wunderbar erschien. Aber mit dieser Schuld musste er leben. Er allein hatte die Ereignisse verursacht. Er hatte nicht geglaubt, dass er ein Unglücksrabe war, der Unglück über sich und andere brachte. Nur er war schuld an dem toten Blick in ihren Augen.
Inden folgenden Jahren war seine Schwester die Einzige, an der er sich festhalten konnte. Sie verschworen sich gegen alle, die ihren Widerstand brechen und sie genauso hässlich machen wollten wie den Rest der Welt. Aber sie waren anders. Zusammen waren sie anders. Im Dunkel der Nacht fanden sie immer Trost und konnten den Schrecken des Tages entfliehen. Seine Haut an ihrer. Ihr Atem, der sich mit seinem vermischte.
Schließlich fand er eine Möglichkeit, die Schuld mit ihr zu teilen. Und Schwesterchen war immer bereit, ihm zu helfen. Immer zusammen. Immer. Zusammen.
A lsaus der Kirche die ersten Takte von Mendelssohn Bartholdys Hochzeitsmarsch erklangen, wurde Patrik der Mund trocken. Er warf Erica einen Blick zu. Sie kämpfte mit den Tränen. Einem Mann waren jedoch gewisse Grenzen gesetzt, er konnte nicht schluchzend zum Altar schreiten. Aber er war so wahnsinnig glücklich. Er drückte Ericas Hand, sie strahlte ihn an.
Sie war unfassbar schön. Kaum zu glauben, dass sie hier neben ihm stand. Plötzlich musste er an seine erste Hochzeit denken. Damals, mit Karin. Aber die Erinnerung verflüchtigte sich genauso schnell, wie sie aufgetaucht war. Für ihn war dies das erste Mal. Diesmal heiratete er richtig. Alles andere war eine Generalprobe gewesen, ein Umweg, eine Vorbereitung auf den Moment, in dem er mit Erica vor den Altar trat und ihr versprach, sie in guten und in schlechten Zeiten zu lieben, bis dass der Tod sie schied.
Nun gingen die Türen auf, und sie traten langsam ein. Der Organist spielte, alle Gesichter drehten sich zu ihnen um. Wieder sah er Erica an. Sein Lächeln wurde immer breiter. Das schlicht geschnittene weiße Kleid war mit feinen Stickereien verziert und saß perfekt. Ihre Haare waren locker hochgesteckt, hier und da hingen einzelne Löckchen heraus. Weiße Blüten steckten in ihrem Haar. An ihren Ohrläppchen hingen schlichte Perlenohrringe. Siewar unendlich schön. Wieder wollten ihm die Tränen in die Augen steigen, aber er schluckte sie tapfer hinunter. Er würde es schaffen, ohne zu weinen.
In den Bänken saßen Freunde und Verwandte. Alle Kollegen waren gekommen. Sogar Mellberg hatte sich in einen Anzug gezwängt und seine Haare besonders kunstvoll auf dem Schädel drapiert. Gösta und er waren ohne Begleitung gekommen, während Martin, Patriks Trauzeuge, seine Pia mitgebracht hatte. Annika war mit Lennart da. Patrik war froh, sie
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