Die Traene des Drachen
fielen ihm sofort neben kleinen Mädchengewändern lange Hosen, Hemden und Tuniken ins Auge. Und noch eine weitere Sache erregte seine Aufmerksamkeit: Um den Tisch herum stapelten sich auf dem Boden Bücher und Schriftrollen. Maél ging in die Hocke und besah sie sich näher. Sie handelten alle ausnahmslos von der Heilkunst. Es gab ein Buch mit ausführlichen Beschreibungen von Krankheitssymptomen, die auf bestimmte Krankheiten hindeuteten, dann eines mit pflanzenheilkundigen Ausführungen, eines mit Zeichnungen von Heilpflanzen und schließlich noch ein Buch, in dem sogar verschiedene Behandlungen beschrieben waren, bei denen mit kleinen Instrumenten Eingriffe an Verletzungen durchgeführt wurden. Auf den Papierrollen waren ausnahmslos Zeichnungen der menschlichen Anatomie zu sehen, die zum Teil auch das Innenleben des menschlichen Körpers zeigten. Sie interessiert sich offensichtlich weder für weibliche Kleidung noch für Beschäftigungen, die für Frauen typisch sind.
Er erhob sich. Dabei fiel sein Blick auf eine Holzschatulle, die auf dem Tisch stand. Ein roter Stein auf dem Deckel funkelte wie ein Auge. Er hob den Deckel an. Ein ungewöhnlicher, aber durchaus angenehmer Duft, der ihm entgegenströmte, stellte seinen feinen Geruchsinn sogleich auf die Probe. Typische Gerüche des Waldes – der von feuchter Erde, Moos, Holz und Harz – konnte er recht schnell identifizieren. Aber da war auch noch etwas anderes, was sich ihm nicht gleich offenbarte. Er nahm ein beschriebenes Stück Pergament heraus, unter dem ein langer abgeschnittener Haarzopf zum Vorschein kam. Die großer Schrift verfassten Worte vermittelten den Eindruck, dass derjenige, der die Feder geführt hatte, im Schreiben nicht geübt war. Er las: Ich liebe euch alle und werde euch immer in meinem Herzen behalten. Damit ihr mich nicht vergesst, lasse ich einen Teil von mir bei euch. Du musst nicht traurig sein, Breanna. Ich bin froh, dass ich sie los bin. Elea
Die Worte berührten ihn auf eine ihm bisher unbekannte Weise. Doch er unterdrückte dieses Gefühl schnell wieder und nahm den dunkelbraunen Zopf aus der Kiste. In ihm konnte er deutlich eingeflochtene rote Strähnen erkennen. Das sind also die geheimnisvollen Haare, die in der Nacht angeblich rot glühend leuchten. Aber sie tun es offenbar nicht mehr, wenn sie abgeschnitten wurden . Er schob die Maske hoch, um den Duft der Haare noch besser durch die Nase einatmen zu können. Neben den Waldgerüchen roch er nun noch zwei andere mindestens ebenso intensive Düfte: der von Rosen und der von Lavendel. Deine Haare hier zu lassen war ein fataler Fehler. Diese beiden Blumendüfte würden es ihm ermöglichen, sie aufzuspüren.
Er steckte den Zopf in sein Wams und warf noch einen kurzen Blick aus dem Fenster. Die Äste des nahen Apfelbaums zeigten deutliche Spuren vom häufigen Klettern. Allerdings fiel ihm auf, dass es einer gewissen Geschicklichkeit und körperlicher Voraussetzungen bedurfte, um sich vom Fenster zum nächsten Ast zu schwingen. Er drehte sich wieder um und lehnte sich lässig an den Tisch. Er ließ nochmal alles, was er über die junge Frau gerade erfahren hatte, Revue passieren. Er kam zu dem Schluss, dass sie aufgrund der großen Anzahl Bögen eine gute Bogenschützin war, dass sie über ausreichende heilkundige Kenntnisse verfügte, um ernstere Verletzungen versorgen zu können, dass sie eine für eine Frau überdurchschnittlich gute körperliche Verfassung besaß und dass sie den Wald in- und auswendig kannte, was ihr einen gewissen Vorteil ihm gegenüber verschaffte. Endlich mal eine kleine Herausforderung! Sein Jagdinstinkt war geweckt. Er stieß sich schwungvoll vom Tisch ab und ging wieder nach unten. Dort angekommen, fiel ihm sofort auf, dass der junge Mann, den er bewusstlos geschlagen hatte, aus seiner Ohnmacht erwacht war und von seiner Mutter versorgt wurde. Er warf dem Hauptmann einen finsteren Blick zu, der ihn unbeeindruckt ebenso finster erwiderte. Während Albin mit versteinerter Miene das Mädchen auf dem Schoß sitzen hatte und der jüngere Sohn an seiner Seite mit angsterfüllten Augen klebte, durchbohrte ihn der junge Mann mit hasserfüllten Blicken. Maél löste den Gurt mit dem Schwert, was von Jadora mit einer hochgezogenen Braue quittiert wurde. Zu ihm gewandt sagte er für alle gut hörbar: „Außer einem Messer werde ich nichts brauchen. Das Schwert behindert mich nur bei der Jagd.“ Bei diesen Worten zuckte die gesamte Familie zusammen und sah ihn
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