Die Traene des Drachen
Kaum war jeder mit Fleisch versorgt, löcherte Jadora Maél mit Fragen bezüglich ihres Ausfluges, die der jüngere Mann nur wortkarg beantwortete. Elea kaute schweigsam vor sich hin. Sie konnte förmlich die Freude der scherzenden und schmatzenden Männer spüren, angesichts der bevorstehenden Fortsetzung der Heimreise. Tagelang nichts tuend herumlungern, ohne eine ernsthafte Aufgabe zu haben, hatte offenbar an ihren Nerven gezerrt. Auf Elea sprang allerdings kein Funke dieser Vorfreude über. Wenn sie nur daran dachte, wieder auf ein Pferd steigen zu müssen, verging ihr der Appetit.
Nach dem Essen ging sie sogleich zu ihrem Platz, um sich schlafen zu legen. In dem Moment, als sie eine bequeme Position suchte, fiel ihr auf, dass sie gar nicht ihr Kopftuch trug. Sie hatte also eine ganze Zeit lang geleuchtet, ohne dass die Männer sie ängstlich angestarrt hatten. Im Gegenteil, es schien ihnen, schon gar nicht mehr aufgefallen zu sein. Diese Erkenntnis stimmte sie irgendwie freudig, da die Männer sie offensichtlich so akzeptiert hatten, wie sie war - und das schon nach so kurzer Zeit - ganz anders als in Rúbin. Die Dorfbewohner hatten sie auch noch nach Jahren wegen ihrer drei roten Haarsträhnen angestarrt, als wäre sie eine Missgeburt - und das, ohne von dem viel beängstigenderen Geheimnis ihrer im Dunkeln leuchtenden Haare zu wissen.
Elea nahm ihr Kopftuch und drapierte es sich zum Schlafen um den Kopf. Kaum hatte sie es sich in ihrem Fellumhang gemütlich gemacht, kam auch schon Maél. Er legte sich wie schon die drei Tage zuvor auf den nackten Boden. „Ihr könnt Euer Schlaffell wieder haben. Ich glaube meine Fettpolster sind jetzt dick genug, um der nächtlichen Kälte zu trotzen“, sagte sie in spitzem Ton und hielt ihm sein Fell entgegen. „Mir wäre es lieber, wenn Ihr es zumindest diese Nacht noch behieltet. Nicht, dass Ihr Euch heute Nacht nach dem kalten Bad im Bach noch einen Schnupfen einfangt!“
„ Ihr erstaunt mich wirklich. Eure plötzliche Sorge um mein Wohlergehen kennt scheinbar keine Grenzen. Also gut. Aber ich behalte es nur noch heute Nacht.“ Damit war das Gutenachtgespräch beendet – zunächst einmal. Elea konnte jedoch nicht einschlafen. Sie lag eine halbe Ewigkeit auf dem Rücken und starrte in den schwarzen Nachthimmel. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um dieselben Fragen: Welche Überraschungen hielt die weitere Reise nach Moray noch für sie bereit? Was hatte König Roghan mit ihr vor? Wie fügte sich ihr Leben in diese mehr als lästige Prophezeiung? Und schließlich die Frage, die sie wohl am meisten beschäftigte: Was sollte sie von diesem undurchschaubaren Maél halten, zu dem sie sich - gegen alle Vernunft - immer stärker hingezogen fühlte?
In ihre Gedanken versunken vernahm sie völlig unerwartet seine Stimme. „Eine Sache beschäftigt mich schon den ganzen Abend: Warum seid Ihr heute nicht einfach vor mir weggelaufen? Das wäre Eure Chance gewesen. Ich wäre nicht in der Verfassung gewesen, Euch zu Fuß zu verfolgen“, sagte Maél mit echter Neugier in der Stimme. Elea fehlten die Worte. Auf diese Frage war sie nicht vorbereitet gewesen. Was sollte sie ihm antworten? „Um ehrlich zu sein, im ersten Moment, als ich bemerkte, dass ihr viele Schritte hinter mir ward, spielte ich sogar mit diesem Gedanken, aber nur sehr kurz. Mir erschien es auf einmal viel verlockender, Eure Reaktion auf Eure erlittene Niederlage mitzuerleben“, antwortete das Mädchen in belustigtem Ton. „Und fiel meine Reaktion zu Eurer Zufriedenheit aus?“
„ Ich denke schon. Allerdings noch schöner wäre es gewesen, wenn Ihr nach Luft japsend auf dem Boden gelegen wärd und mich um Gnade angefleht hättet“, neckte sie ihn. Über Maéls Gesicht huschte ein Lächeln. Noch ein paar Schritte mehr und es wäre soweit gekommen.
Kapitel 4
Elea schreckte aus dem Schlaf hoch, als lautes Metallklirren an ihr Gehör drang. Es waren jedoch nur die Krieger, die ihre zahllosen Schwerter entweder an die bereits gesattelten Pferde oder in die Scheiden an ihren Gürteln steckten. Der Morgen dämmerte bereits. Elea musste feststellen, dass die Männer so gut wie fertig mit den Vorbereitungen für den Aufbruch waren. Sie packte rasch ihren Rucksack und befestigte ihren zusammengerollten Fellumhang daran. Dann kam sie unter dem Vorsprung hervor. Sie schaute hinauf zum Himmel, der gerade noch dunkel genug war, um zwischen einzelnen Wolken leuchtende Sterne erkennen zu können. Sie ging
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