Die Tränen der Henkerin
Leib und nahm das Ende in die Hand. »So ist es sicherer«, sagte sie zu Melisande. »Wir wollen doch nicht, dass die Kleine in den Tod stürzt. Noch nicht.« Dann wandte sie sich Wendel zu. »Niederknien!«
Noch bevor er reagieren konnte, warfen ihn die Wachen zu Boden. Schmerz durchzuckte ihn, als er mit den Knien auf dem harten Boden aufschlug, doch er bemerkte es kaum.
»Hast du noch etwas zu sagen, Weinhändler?«, fragte Othilia. »Ein paar letzte Worte an deine Familie vielleicht?«
Wendel hob den Blick und sah Melisande in die Augen. In seinem Knie pochte der Schmerz, sein Herz hämmerte wild, seine Augen brannten. »Töte mich, und rette unser Kind«, sagte er leise.
Melisande schüttelte unmerklich den Kopf.
»Tu es«, wiederholte er. »Zögere nicht. Wir haben keine Wahl. Wenn es schnell geht, muss niemand lange leiden. Denk an die Hinrichtung, die ich zusammen mit meinem Freund Merten besuchte. Auch damals musste der Delinquent nicht lange leiden.«
***
Dieses verfluchte Teufelsweib! Eberhard von Säckingen musterte Othilia mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu. Wahrlich eine grandiose Rache, hundertfach schmerzhafter als ein noch so qualvolles Sterben! Melisande würde damit leben müssen, entweder für den Tod ihres Gemahls oder für den ihrer Tochter verantwortlich zu sein. Aber wäre das wirklich alles? Würde Othilia ihre Todfeindin ziehen lassen mit dem, was von ihrer Familie geblieben war, und sie in Frieden leben lassen? Wohl kaum. Hatte nicht irgendwer ein Verlies erwähnt, das die Gräfin im Palas hatte bauen lassen? Ein Verlies für Melisande und ihre kleine Tochter!
Von Säckingen fing Othilias Blick auf. Ein irres Flackern leuchtete in ihren Augen. Er schauderte. Und er verstand: Weder Wendel noch Gertrud würden diesen Tag überleben. Melisande würde einen von ihnen opfern und danach begreifen, wie sinnlos ihre Tat war. Beide würden sterben, so oder so. Und Melisande würde so lange leiden, bis der Tod auch ihr gnädiges Vergessen schenkte. Es würde nicht lange dauern, da war er sicher. Ohne ihre Familie würde Melisande in kürzester Zeit zugrunde gehen.
Von Säckingen hörte, wie Othilia Anweisungen gab, wie sie Wendel aufforderte, einige letzte Worte zu sprechen. Er sah ein kurzes Zucken in Melisandes Gesicht, sah, wie sie sich zögernd bückte, um das Richtschwert aufzuheben. Das Schwert wirkte riesig in ihren zarten Händen, sie konnte es kaum halten, geschweige denn über ihren Kopf heben. Unvorstellbar, dass sie auch nur einen einzigen Hieb damit ausführte! Melisande war eine ungewöhnlich mutige Frau, sicherlich, und doch hatte sie vermutlich noch nie in ihrem Leben ein Schwert in den Händen gehalten. Wenn sie kämpfte, dann mit anderen Waffen: mit Klugheit, Entschlossenheit und List. Wie unerschrocken sie ihre Flucht aus dem Kerker angeführt hatte, wie sie trotz der drohenden Gefahr für Leib und Leben einen kühlen Kopf bewahrt hatte!
Von Säckingen sah zu, wie Melisande das Schwert in ihren Händen musterte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke: Woher hatte sie eigentlich den Fluchtweg aus dem Esslinger Thronsaal gekannt? Woher hatte sie gewusst, dass es hinter der Folterkammer einen weiteren Raum gab, von dem aus ein Gang zu den Kellern der benachbarten Häuser führte? Es bewies zweifellos, dass sie tatsächlich aus Esslingen stammte, dass sie dort aufgewachsen war und sich auskannte. Aber kannte jeder Esslinger den geheimen Ausgang aus dem Kerker und das Labyrinth unter der Stadt?
Unfähig, etwas zu tun, beobachtete von Säckingen, wie Melisande langsam zu Wendel ging, den Knauf des Richtschwertes fest mit beiden Händen umfasste und einen Fuß so zurückstellte, als wollte sie einen Tanzschritt vollführen. Von Säckingen stutzte. Etwas an ihren Bewegungen kam ihm merkwürdig vor, so als hätte er es schon einmal gesehen. Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf. Der Henker. Melchior. Er hatte immer genau so den Fuß zurückgestellt, bevor er seinen tödlichen Hieb ausführte.
Die Erkenntnis traf von Säckingen wie ein Faustschlag. Er warf einen raschen Blick zu Othilia, doch der war offenbar nichts aufgefallen. Natürlich nicht, sie hatte den Henker von Esslingen schließlich nie bei der Arbeit gesehen. Sie erklärte sich Melisandes merkwürdige Körperhaltung vermutlich damit, dass ihre Gefangene nicht wusste, wie man ein Schwert am besten hielt. Vermutlich amüsierte es sie sogar. Dabei war das Gegenteil der Fall: Melisande wusste es ganz genau, und
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