Die Tränen der Henkerin
Gelegenheit geben würde, sie zu trösten. Er warf einen Blick auf den Karren. Aus dem Versteck war nichts zu hören. Sicherlich schlief Melisande. So wie gestern Nacht am Feuer. Er hatte kaum ein Auge zugetan, sie immerzu angeschaut, beobachtet, wie die Flammen einen Tanz aus Licht und Schatten auf ihrem Gesicht vollführten. Sie war nicht so abweisend gewesen, wie er erwartet hatte, sogar bedankt hatte sie sich bei ihm. Wenn er nur …
Am Anstieg zur Adlerburg wurden die Pferde langsamer, der Karren blieb fast stehen. Von Säckingen hieb mit der Peitsche auf die Tiere ein. »Los, macht schon, ihr faulen Gäule! Der Wagen ist fast leer, setzt euch in Bewegung!«
Die Pferde legten sich ins Zeug, und wenig später rollte das Gefährt mit der wertvollen Fracht durch das Tor auf den Burghof. Umgeben von Wachen stand Othilia bei der Tür des Palas. Sie trug ein festliches blaues Gewand, ihr Haar war kunstvoll hochgesteckt, und ihre Augen verrieten, dass sie bester Laune war. »Seid willkommen, mein lieber von Säckingen«, säuselte sie. Lächelnd trat sie näher, wartete, bis er vom Bock gestiegen war, und ließ sich die Hand küssen. »Reichlich zerlumpt seht Ihr aus, Ritter. Wo habt Ihr Euch nur herumgetrieben?« Sie zwinkerte verschmitzt.
»Ich habe keine Mühen gescheut, Euren Wünschen nachzukommen.« Er verneigte sich.
»Nun, dann lasst sehen, was Ihr mir mitgebracht habt. Ich bin schon ganz gespannt.« Mit dem kleinen Finger zeigte sie beiläufig auf den Wagen.
Von Säckingen wandte sich ab, um das Versteck zu öffnen, doch Othilia hielt ihn zurück. »Und? Verratet es mir: War sie süß, die Frucht? Hat sie Euch gemundet?«
Von Säckingen blinzelte irritiert, doch dann begriff er und verzog das Gesicht zu einem Grinsen, von dem er hoffte, dass es überzeugend aussah. »Süß in der Tat, meine Liebe, süß und zugleich herb, genau so, wie man es von einer wilden Frucht vom Wegesrand erwartet. Lange nicht so erlesen jedoch wie die Köstlichkeiten, an denen ich mich hier auf der Adlerburg laben durfte.«
Othilia zog eine Augenbraue hoch und lächelte zufrieden. »Das dachte ich mir.« Sie fuhr ihm mit dem Finger über die Brust. »Ich wusste, dass Ihr einen hervorragenden Geschmack habt, dass Ihr zu schätzen wisst, was ich Euch zu bieten habe.« Ihr Gesicht wurde ernst. »Und jetzt bringt mir die Metze!«
»Wie Ihr wünscht.« Von Säckingen sprang auf den Wagen und öffnete die Luke. Behutsam half er Melisande aus dem engen Versteck.
»Nun macht schon, die Metze ist keine Prinzessin!«, keifte Othilia hinter ihm. »Ich habe nicht ewig Zeit. Wir werden erwartet!«
Von Säckingen drehte sich um. »Erwartet? Von wem? Wo?«
Othilia deutete wortlos auf den Turm, der sich hinter dem Palas in die Höhe reckte. Von Säckingen kniff die Augen zusammen und erkannte ein paar Gestalten, die reglos hinter den Zinnen warteten. Was hatte das zu bedeuten? Er sah zu Melisande, die sich inzwischen aufgerichtet hatte, einen unsicheren Schritt in seine Richtung machte und nach seinem Arm griff. Mit einem Mal packte ihn eine unerklärliche, lähmende Angst. Eine Angst, wie er sie nie zuvor empfunden hatte, nicht einmal auf dem Schlachtfeld. Etwas würde heute geschehen, etwas, das sein Leben von Grund auf verändern würde.
***
Melisande griff nach dem Arm, den von Säckingen ihr bot. Sie war noch ganz benommen von der Fahrt und geblendet von der plötzlichen Helligkeit. Unterwegs hatte sie fieberhaft überlegt, was sie tun sollte, wenn sie auf der Adlerburg ankamen, doch sie hatte keinen klaren Gedanken fassen können. Sie war allein und hatte es mit einer Übermacht zu tun, ohne Hilfe oder List konnte sie nichts ausrichten. Zudem wusste sie nicht, was die Gräfin plante. Daher hatte sie beschlossen abzuwarten, sich umzuschauen – und zu hoffen, dass Wendel noch lebte und ihr beisprang.
Von Säckingen half ihr vom Wagen. Melisande erkannte mächtige Mauern, einige Handwerkerhütten, die sich daran kauerten, einen Palas und einen Turm. Vor dem Palas verharrte reglos etwa ein Dutzend Ritter in voller Rüstung. Bei ihnen stand eine Frau, schlank und dunkelhaarig, mit blassem Gesicht und kalten Augen. Das musste die Gräfin sein. Melisande bemerkte überrascht, dass sie etwa genauso alt wie sie selbst war. Sie hatte sich die Gemahlin von Ottmar de Bruce deutlich älter vorgestellt.
Die Gräfin trat näher. »Melisande Wilhelmis, willkommen auf der Adlerburg.«
Melisande erwiderte nichts. Unauffällig blickte sie nach
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