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Die Tränen der Henkerin

Die Tränen der Henkerin

Titel: Die Tränen der Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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rechts und links. Wo war Wendel? Er musste längst hier sein! Und wo war Gertrud? In der Schmiede nahm sie eine Bewegung wahr. Ein junger Bursche stand dort mit einem blinkenden Rohling in der Hand. Sein Blick war auf sie gerichtet, er hatte etwas merkwürdig Lauerndes, das sie an ein Raubtier erinnerte, das gleich zuschlägt. Hastig schaute sie weg.
    »Was blickt Ihr so finster drein, meine Liebe?«, flötete Othilia de Bruce. »War die Reise so beschwerlich? Oder lag es an der Begleitung?« Sie verzog das Gesicht. »Ich gebe zu, Eberhard von Säckingen vergisst bisweilen seine gute Erziehung.«
    Melisande schluckte. Sie wollte etwas sagen, irgendetwas, mit dem sie Othilia dazu verleiten konnte, weiterzusprechen, doch ihre Kehle war so ausgedörrt, dass sie nur ein kaum hörbares Krächzen zustande brachte.
    »Mein Gott, wie unhöflich von mir!«, rief die Gräfin. »Ihr habt eine beschwerliche Reise hinter Euch, und ich vergesse die einfachsten Regeln der Gastfreundschaft.« Sie klatschte in die Hände. »Los, los, schnell! Eine Erfrischung für unseren Gast!«
    Sofort rannte ein Diener mit einem Tablett herbei. Er reichte Melisande einen Becher verdünnten Wein, von dem sie durstig einige Schlucke nahm. Danach bot er ihr Käse und Früchte an, doch sie schüttelte den Kopf.
    »Ihr seid nicht hungrig?«, fragte Othilia. »Ihr solltet trotzdem etwas essen. Eine große Aufgabe steht Euch bevor. Heute Nacht ist der Mond voll.«
    Melisande erstarrte.
    »Oh ja«, sagte Othilia. Ihr Lächeln gefror. »Ihr habt richtig geraten. Alles wird genau so sein, wie ich es von Anfang an geplant hatte. Nur der Ort wird ein anderer sein.« Sie winkte Melisande. »Wenn Ihr mir nun bitte folgen wollt.« Sie machte drei Schritte, dann drehte sie sich noch einmal um. »Ihr natürlich auch, von Säckingen! Um keinen Preis sollt Ihr dieses Schauspiel verpassen!«
***
    Was für ein Hochgefühl! Othilia schwebte die Stufen zum Turm hinauf. Endlich war der große Augenblick gekommen! Und alles hatte sich so wunderbar gefügt, besser noch, als sie es ursprünglich geplant hatte. Sie würde die süßeste, köstlichste Rache schmecken, die je ein Mensch geschmeckt hatte, und sie würde sie auskosten bis zum letzten Tropfen. Von Säckingen war in der Tat ein Teufelskerl. Wie schlau er bei der Befreiung der rothaarigen Metze vorgegangen war! Und wie brav er danach in ihren Schoß zurückgekehrt war. Sie hätte sich die Spione sparen können, die sie ihm hinterhergeschickt hatte. Aber man wusste ja nie. Wenn ein Weib im Spiel war, verloren viele Männer den Verstand. Doch von Säckingen hatte offenbar gemerkt, dass so manche Frucht besser aussah, als sie schmeckte.
    Othilia warf ihm einen raschen Blick zu. Alles war gelaufen wie am Schnürchen. Es fehlte nur noch der krönende Abschluss. Und dann würde von Säckingen eine ganz spezielle Belohnung von ihr erhalten. Die hatte er sich wahrlich verdient.
    Ein kalter Windzug blies Othilia ins Gesicht, als sie den obersten Treppenabsatz erreichte und ins Freie trat. Zufrieden stellte sie fest, dass alles so war, wie sie es zurückgelassen hatte: die Wachen, der dunkellockige Weichling, der ihr vor die Füße gefallen war wie eine reife Frucht, die Magd mit dem Kind. Die Bühne war bereitet, das Spektakel konnte beginnen.
***
    Wendel lauschte den Schritten auf der Treppe. Bald war Melisande bei ihm! Er hatte von oben gesehen, wie der Wagen auf den Burghof gerollt war, wie der Ritter Melisande aus dem Versteck geholt hatte. Sie schien unversehrt zu sein, dem Himmel sei Dank!
    Er sah zu der Magd hinüber, die Gertrud auf dem Arm hielt. Die Familie ist wieder vereint, dachte er bitter, vereint, um gemeinsam zu sterben. Gott hatte offenbar beschlossen, sie alle für seine Sünden und seine Dummheit zu bestrafen. Wie hatte er sich nur so übertölpeln lassen können! In aller Frühe war er losgeritten und am späten Vormittag ohne Zwischenfälle bei der Adlerburg angelangt. Kurz vor dem Anstieg war er abgesessen und hatte das Pferd mit einem Klaps auf die Kruppe fortgeschickt. Dann war er durch das Unterholz neben der Straße den Berg hinaufgeklettert. Wenige Fuß vor der Mauer hatten Othilias Männer ihn geschnappt. Sie hatten im Geäst der Bäume auf ihn gewartet. Was war er nur für ein Narr! Natürlich hatten sie ihn schon längst aus der Ferne gesehen, beobachtet, wie er sich ins Gebüsch schlug, und ihn in aller Seelenruhe herankommen lassen. Als könnte er, ein einfacher Weinhändler, eine Horde

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