Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
Königin die Durchfahrt verweigern sollte.
Anne ihrerseits betrieb wie besessen das Scheitern ihres Feindes. Mit Hilfe eines mächtigen Verbündeten, des Kardinals d’Amboise, demselben, der de Gié im Weg stand, ließ sie das Gerücht über ihre bevorstehende Abreise verbreiten.
Während also Marschall de Gié seine Sicherheitsvorkehrungen auf der Loire überwachte und alle Straßen nach Tours, Saumur
und Angers sperrte, bereitete sich die Königin auf ihre Abreise vor. Doch dann erholte sich Ludwig XII., der von Fieberanfällen in den Alpen aufgehalten worden war, allmählich wieder.
Durch diese unvorhergesehene Wendung überstürzten sich die Ereignisse nun in umgekehrter Richtung, und nachdem sich die erste Angst der Bevölkerung durch die plötzliche Genesung des Königs gelegt hatte, fand sich jeder mehr oder weniger in der Falle.
Anne zog sich allerdings ziemlich geschickt aus der Affäre und weigerte sich, auf eine Rache zu verzichten, die sie sorgfältig vorbereitet hatte. Sie gab eine Anklageschrift gegen de Gié in Auftrag, die sie von Seigneur de Pontbriand und dem Kardinal d’Amboise unterzeichnen ließ. Dann trommelte sie eilends ihr Gefolge zusammen und machte sich auf den Weg, um ihrem Gatten entgegenzureisen, der zusehends genas.
Louis XII. hatte sich nämlich nicht mit der Krankheit angesteckt, die man vermutet und die so viele Soldaten nach ihrer Rückkehr aus Italien dahingerafft hatte. Nach und nach kehrten seine Lebensgeister zurück und er kam allmählich zu Kräften. In Grenoble fand das königliche Paar wieder zusammen, und hier wurde dann auch in der allgemeinen Begeisterung über die Genesung des Königs ein rauschendes Fest gefeiert. Zurück in Blois und von der Königin bis ins letzte Detail auf dem Laufenden gehalten – ihren Fluchtplan hatte sie dem König natürlich verschwiegen –, ließ Ludwig Marschall de Gié zu sich kommen, der von den Ereignissen völlig überrascht worden war und so schnell keine Unterstützung und keine Ausflucht fand.
Louise hütete sich wohlweislich, eine Diskussion vom Zaun zu brechen, die ihr gefährlich werden könnte, und zog es vor zu schweigen.
Sofort wurde eine Untersuchung eingeleitet, und man ernannte umgehend fähige Richter, die diese verhängnisvolle Sache verhandeln
sollten. Anne de Bretagne war über die unerwartete Wendung der Ereignisse überglücklich und witterte die einzigartige Gelegenheit, ihren Feind ein für alle Mal loszuwerden; deshalb bezichtigte sie de Gié auch noch ohne Zögern des Hochverrats.
Begreiflicherweise zögerte Louise d’Angoulême, die sich wie gewohnt überaus vorsichtig und geschickt verhalten hatte, noch über ihre weitere Vorgehensweise. Wie sollte sie handeln, ohne sich ernsthaft in Gefahr zu bringen? Einerseits witterte sie die Möglichkeit, sich von ihrem Unterdrücker zu befreien, andererseits vernichtete sie so womöglich den einzigen Menschen, der auf ihrer Seite stand. Da sie ihrem Wesen nach eher ausgeglichen und überlegt war und von Natur aus besonnen, entschied sie sich zu schweigen. Sie wollte Marschall de Gié weder vernichten noch ihm helfen.
Auch wollte sie in dem Prozess nicht aussagen. Sie erklärte lediglich, sie hätte von den ganzen Machenschaften des Marschalls, dem kritischen Gesundheitszustand des Königs und den Verschwörungen in ihrer Umgebung nichts gewusst. Als man ihr mit detaillierten Fragen zusetzte, waren ihre Antworten so missverständlich und mehrdeutig, dass man daraus keine konkreten Schlüsse bezüglich ihrer Rolle in der Geschichte oder ihrer Einschätzung ziehen konnte.
Der Angeklagte de Gié hatte keinen Verteidiger und auch kein Rechtsmittel mehr, um sich aus der Affäre zu ziehen. Ihm blieb nur, die Hauptanklagepunkte abzustreiten, woraufhin er vor dem Hohen Rat von Orléans erscheinen musste.
Er wurde schuldig gesprochen, und man nahm ihm alle Titel. In Anerkennung seiner früheren guten und loyalen Dienste schickte ihn Louis XII. aber nur auf seine Ländereien ins Exil und schonte ihn so mehr, als es sich die Königin gewünscht hätte.
Für Louise begann damit ein neues Kapitel, und während Marschall
de Gié verloren hatte, war sie sehr ehrenhaft aus der Sache hervorgegangen. Nun musste sie sich selbst um die Verwirklichung ihrer Ziele kümmern und die Position ihres Sohnes festigen.
Der Hof hatte de Gié schnell vergessen, Louise bereitete sich bereits auf seinen Nachfolger vor, der den Posten als Privatlehrer des Thronfolgers einnehmen würde,
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