Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
daransetzen, dass ihr Geliebter so lange wie möglich bei ihr bliebe.
Sie ging dann doch nicht zu Mathias, stand aber zweimal in der Nacht auf, um dem kleinen Nicolas einen Kuss zu geben. Am
nächsten Morgen verschwand sie ganz früh aus dem Haus, als es eben erst hell wurde.
Alessandro und Alix hatten sich in dem schönen Gasthaus »Zur fischenden Katze« an der Loire verabredet. Zimmer und Essen waren dort ausgezeichnet, weshalb in dem Haus nur beste Kundschaft verkehrte.
Bisher hatte der Florentiner Alix noch nicht gefragt, ob er ihre Werkstätten besichtigen dürfe, aber ihr war klar, dass er sie früher oder später darum bitten würde, und sie zitterte bereits vor diesem Moment. Wie würde Mathias reagieren? Ob er wohl wieder weglief und sie sich auf die Suche nach ihm machen müsste? Das wollte sie nicht noch einmal erleben. Damit würde sie nur Alessandros Eifersucht wecken, während sie Mathias keine Rechenschaft schuldig war. Alix hatte ihm nie irgendetwas versprochen und ihm auch nie Hoffnungen gemacht. Was konnte sie dafür, dass er sich in sie verliebt hatte – und erst später in Florine?
Im Gasthaus »Zur fischenden Katze« überreichte man ihr einen Brief. Ebenso überrascht wie enttäuscht entnahm sie dem Schreiben, dass Alessandro erst in zehn Tagen kommen konnte, weil er wegen eines wichtigen Geschäfts mit einem Seidenhändler in Dijon bleiben musste. Er schloss seinen Brief mit den Worten:
Komm zu mir, mein Herz! Wenn Du mich zu den Geschäftsverhandlungen begleitest, kannst Du nur an Erfahrung gewinnen und viel Neues über das Geschäft mit der Seide lernen. Außerdem würdest Du hier Deinen Freund, den Domherrn André Mirepoix, und seinen Bruder Jacques wiedersehen, die ich bereits in Lyon getroffen habe. Ich bin zwar persönlicher Gast des Vogts von Dijon, habe mir aber für die gesamte Dauer meines Aufenthalts ein Zimmer im Gasthaus »Zum weißen Barett« genommen. Dort warte ich ungeduldig auf Dich. Komm schnell!
Alix bereute es, nicht ihre Kutsche genommen zu haben, und überlegte kurz, ob sie nach Blois zurückkehren solle, um sie zu holen. Doch damit würde sie Mathias zu sehr provozieren, und Leos Dienste für ihre Liebschaft zu beanspruchen, schien ihr nicht angebracht. Also beschloss sie, mit Jason nach Dijon zu reiten, in der Hoffnung, dort heil anzukommen. Sie war zwar auf ihrem Maultier schon kreuz und quer durch Frankreich geritten, aber noch nie auf einem Pferd.
Schließlich war es von der Hauptstadt der Touraine bis nach Dijon nicht allzu weit, versuchte sie sich zu ermutigen. In zwei, drei Tagen müsste sie es bis Bourges oder Nevers schaffen, und wenn sie ohne Halt zu machen so viel wie möglich im Galopp ritt, sollte sie am Abend darauf in Dijon eintreffen.
Dank Jasons Temperament und jugendlicher Kraft ging ihre Planung auf. Endlich würde sie diese prachtvolle Stadt sehen, die den burgundischen Herzögen so viel Ruhm und Macht gebracht und von der ihr André schon oft vorgeschwärmt hatte.
Als sie in die Stadt kam, läuteten alle Glocken. Offenbar wurde ein Fest gefeiert, oder es fand eine Parade statt. Vielleicht erwartete man die Ankunft eines hohen Würdenträgers.
Auf dem Platz vor der größten und besonders majestätischen Kirche, deren Name sie nicht kannte, riss sie beim Anblick der berühmten Wasserspeier von Dijon vor Staunen die Augen auf. In Stein gehauen schienen sie die Kirche hinaufzuklettern, als wollten sie die Stadt verspotten.
Als sich Alix suchend nach dem Grund für den Lärm umsah, der durch die ganze Stadt hallte, wusste sie, dass es Mittag sein musste – eine gewaltige Gestalt ganz aus Eisen schlug zwölf Mal mit ihrem schweren Hammer auf eine riesengroße Bronzeglocke.
Sie fragte die Leute auf der Straße nach dem Weg zum »Weißen Barett«. Während sie das Stadtzentrum durchquerte, bewunderte
sie die Fassade des herzoglichen Palastes mit seiner hohen gezackten Turmspitze vor dem grauen Himmel. Ebenso gefielen ihr die stattlichen Patrizierhäuser mit ihren doppelten Balustraden und den mit bunt glasierten Dachziegeln gedeckten Dächern. Sie kam nicht etwa durch enge, dunkle und übel riechende Gassen, sondern ritt auf großzügigen, hellen Straßen, die so breit waren, dass ein Gespann mit vier Pferden dort ohne Schwierigkeiten wenden konnte.
Hier gab es genauso viele prächtige Residenzen wie im Herzen von Tours, genauso breite Wege wie am Loireufer. Alix bog in die Rue des Forges ein, die eigentliche Prachtstraße, in der vor
Weitere Kostenlose Bücher