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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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gewichen sind. Ich denke an ihn, meinen ersten Zahnarzt, zweimal am Tag, wenn ich mir die Zähne putze. Er war der Sohn des allseits geliebten Arztes in der Stadt und hatte in einer Art Rebellion bei Zahnheilkunde mit dem Studium Schluss gemacht. Tennis war wirklich seine Sache. Er brachte es mindestens zweimal bis ins County-Halbfinale und starb dann in seinen Vierzigern an einem Herzinfarkt. In jenen Tagen gab es so etwas wie einen Koronar-Bypass nicht, und Zahnseide und was man damit macht, davon wussten wir auch nicht viel.
    Die Tennisplätze der Stadt waren von seiner Praxis aus bequem erreichbar, man brauchte bloß die Straße zu überqueren – eine Hauptavenue mit Straßenbahnschienen in der Mitte, die einen in zwanzig Minuten die drei Meilen in die lokale Metropole brachten, in der es achtzigtausend berufstätige Männer und Frauen gab, fünf Kinos, in denen die neuesten Filme liefen, und einen Überschuss an veraltenden Fabriken. Die Tennisplätze, vier, waren auf dem Gelände der Highschool, bei der Haltestelle, an der meine Großmutter und ich, auf dem Rückweg von meiner Klavierstunde oder vom Kauf meines guten Mantels fürs laufende Jahr, aus der Straßenbahn ausstiegen, um das letzte Stück bis nach Hause zu Fuß zu gehen, denn ich hatte ihr gesagt, ich sei kurz davor, mich zu übergeben. Sie gab demOzon die Schuld für meine Übelkeit: ihrer Meinung nach fuhr die Straßenbahn mit Ozon oder erzeugte es als Nebenprodukt. Sie war eine altmodische Frau vom Land, die auf dem Schulgelände Löwenzahn schnitt und die grünen Teile in einen abscheulichen Eintopf tat. Am Rand der Stadt gab es einen kleinen plätschernden Bach, da pflückte sie Brunnenkresse. Weiter draußen auf dem Land hatte sie einen Cousin, der noch älter war als sie, der hatte auf seinem Grundstück eine Quelle, auf die er sehr stolz war, und er bestand immer darauf, dass ich zu Besuch komme. Es war seine Vorstellung von einer unterhaltsamen Zeit für einen Jungen aus der Stadt.
    Ich mochte diese Besuche auf dem Land nicht, die, wie ich fand, mit so viel unnötiger Feierlichkeit verbunden waren. Mein Großcousin war ein schmucker Hühnerfarmer, der zu der Zeit unserer letzten Besuche merklich kleiner geworden war als ich. Es ging ein sauberer Geruch von ihm aus, nach Stärke, mit einem Hauch Liniment und einer leisen Muffigkeit, die ich jetzt auch an meinen eigenen Kleidern wahrnehme. Mit einer vogelhaften, girrenden Lebhaftigkeit führte er mich gewissenhaft zur Quelle, einen Plankenpfad hinunter, der schlüpfrig von Moos war, weil er im dauernden Schatten der tropfenden Zweige einer hohen Hemlocktanne lag. In meiner Erinnerung fiel jenseits des Schattens der Hemlocktanne immer ein Sonnenstrahl auf die Quelle. Spinnenartige Weberknechte liefen über ihre Oberfläche, und die Dellen um ihre Füße warfen einander überschneidende goldbraune Ringe auf den sandigen Grund. Eine Blechkelle lag auf einem der großen Sandsteine, die die Quelle umschlossen, und mein in die Jahre gekommener Gastgeber reichte sie mir, gefüllt, mit einem breitenGrinsen, das viel rosa Zahnfleisch entblößte. Er hatte seine vorderen Zähne nicht behalten.
    Ich hatte Angst, einen Weberknecht an den Mund zu bekommen. Was ich mir dann an die Lippen hielt, zeigte meine Nasenlöcher im zitternden spiegelnden Rund der Kelle. Das Wasser war kalt und schmeckte nach blankem Blech, aber es war nicht so kalt wie das, welches in einer Ecke jener Kleinstadt-Werkstatt emporsprudelte, der Zementboden schwarz von Schmiere und die Decke verdunkelt von den Schienen der Schiebetore und von Hängegestellen aus Holz, in denen Gummireifen frisch aus Akron gelagert wurden. Das Gummi unter der Decke hatte einen Geruch, von dem man einen klaren Kopf bekam, ähnlich wie von einem Stück Lakritze, und die jungfräulichen Profile hatten die scharfen Konturen von Metalllettern oder den Bügelfalten frischgeplätteter Hosen. Jenes eisige Wasser enthielt etwas, das mich, einen Jungen von neun oder zehn, begierig machte auf den nächsten Augenblick des Lebens, ein randvoller Augenblick nach dem andern.

    Wenn ich zurückdenke und versuche, in meinem Leben andere Augenblicke aufzuspüren, in denen ich dieses Gefühl von vollem Glas hatte, erinnere ich mich an einen in Passaic, New Jersey, als ich noch im Anzug zur Arbeit ging, die darin bestand, unwilligen Kunden Lebensversicherungen zu verkaufen. Passaic lag außerhalb meines Territoriums, und ich verbrachte dort einen erschlichenen freien Tag

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