Die Tränen meines Vaters
haben
Sie
getrunken?», fragte Evan sie.
Ihre Augen weiteten sich, wie um den Mangel an Licht auszugleichen. «Woher wissen Sie, dass ich was getrunken habe? Ein paar Freundinnen und ich, wir hatten zum Lunch Wein und hinterher einen Anisette.»
«Im Auto», antwortete er, «rochen Sie süß», und er rückte näher, als wolle er es überprüfen.
Ihre Küsse schmeckten nicht nach Lakritze. Im Wohnzimmer, wo der große Plasma-Fernsehschirm leer vor sich hin starrte und der
Globe
vom Morgen, ungelesen, noch in seiner Plastikhülle auf dem Sofa lag, wo ihn jemand hingeworfen hatte, küsste Lynn trocken, versuchsweise, als teste sie ihren Lippenstift. Dann erwärmten ihre Lippen sich auf den seinen, ihr Gesicht drückte sich gegen seines, und ihre nervösen Hände tasteten sich auf seinem Rücken hinunter bis zum Kreuz und hinauf zum Nacken, und Evan fragte sich benommen, ob er sich nicht zu plötzlich, zu gefährlich weit vorgewagt hatte. Aber nein, beruhigte er sich, dies war menschlich und harmlos, dieser geschützte Kontakt, während draußen der Regen trommelte und das Licht in den Zimmern um unmerkliche Grade schwächer wurde. Seine Regung war, ihr über die Haare zu streichen, die vorn zerzaust und weiter hinten vom Kopftuch platt gedrückt waren. Seine Hände zitterten, wie ihre Lippen gezittert hatten. Ihrer beider Gesichter waren heiß; ihre Liebkosungen durch die Kleider wurden unbeholfen.
«Wir sollten nach oben gehen», sagte sie heiser. «Wenn jemand vorbeikommt, könnte er uns hier drinnen sehen.»
«Wer sollte bei diesem Wetter vorbeikommen?», fragte er.
«Er kriegt viele FedExe», sagte sie. Vor ihm die Treppe hinaufgehend – blassgrüner Läufer, bei ihm und Camilla war er dunkelbraun –, benutzte Lynne weiter das unidentifizierte Pronomen. «Er ruft mich jeden Tag an, oft um diese Zeit. Ich nehme an, auf die Weise hält er sich die Abende frei.»
Evan kam leicht außer Atem oben an der Treppe an – er hatte, während er hinter dieser Frau herging, die Luft angehalten, so sehr hatte er ihr überraschend muskulöses Hinterteil im anliegenden Strickkleid bewundert. «War es dein Ernst, dass dein Telephon auch nicht funktioniert?», fragte er.
«Ja, er hat irgend so ein knickriges System installieren lassen, läuft alles über dieselben Leitungen. Ich versteh’s nicht so richtig. In unserm neuen Auto kriege ich die Radiostationen nicht rein. Sie bieten einem jetzt zu viele Wahlmöglichkeiten.»
«Genau», sagte er.
Die Zimmer oben waren anders aufgeteilt als die in seinem Haus, und das, in welches sie ihn führte, war kahler und kleiner, als man von einem Elternschlafzimmer erwartet hätte. Photographien auf der Kommode zeigten ihre Söhne in verschiedenen Altersstadien und Leute, die älter, aber noch jung waren, in Fünfziger-Jahre-Kleidern, vielleicht ihre Eltern oder Willys. Die Farben diverser gerahmter Ferienschnappschüsse waren ausgeblichen, hatten das Register gewechselt. Ein Poster an der Wand zeigte eine nur mit einem Python drapierte Frau, ausgestreckt auf einem Lamborghini. Lynne stand einen Augenblick am Fenster. «Schau», sagte sie. «Du kannst dein Haus sehen, jetzt, wo das Laub weg ist.» Evan brauchte ein paar Sekunden, bis er es sah –ein blasser Schatten, zart bläulich wie Rauch, zwischen den Bäumen.
«Du hast gute Augen», sagte er. Er wollte das Gefühl verdrängen, dass diese Nachbarin viel jünger war als er, aber der Altersunterschied tat sich kund in der ruhigen, raschen Art, in der sie sich ihrer Kleider entledigte, als sei es nichts Besonderes. Oh, aber es
war
etwas Besonderes, sie war so entzückend, ganz mager und flaumig und an den richtigen Stellen mollig, wie sie hin und her ging im schattigen Zimmer und ihre gefalteten Sachen auf Stühle legte, einfache Knabenstühle mit geraden Rückenlehnen. Als er sie in der Mitte der Straße sah, hatte er eine Sekunde lang gedacht, sie sei ein Geist, und es lag etwas geisthaft Verzaubertes in der Art, wie sie sich bewegte, die Lippen gekräuselt, mit diesem Ausdruck von Selbstkritik, den er im Auto bemerkt hatte, als sie neben ihn gerutscht war.
Sie kam zu ihm und half ihm beim Ausziehen, etwas, das Camilla niemals tat. Dieser fügsame Akt, ihre Stirn gerunzelt bei der Mühe mit seinen Hemdknöpfen, erregte ihn so, dass er aufhörte, nervös zu sein, nicht mehr das Gefühl hatte, sich zu weit vorgewagt zu haben – nicht mehr auf den Regen und den Wind lauschte. Der Sturm des Blutes in ihm übertönte das Unwetter
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