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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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draußen. Vor Konzentration schob ihre Zungenspitze sich zwischen den Lippen hervor. In ihrem verwuschelten Pony, den das Kopftuch nicht bedeckt hatte, glitzerten ein paar Tröpfchen, und er roch nach Regen, noch ein Geruch aus der Kindheit. «Gott», sagte er. «Ich liebe das.» Er hatte sich mit einiger Anstrengung davon abgehalten, «dich» zu sagen.
    «Das ist nicht alles», sagte sie im leichten Ton einer Frau, die zu einer Freundin spricht. «Es gibt mehr, Evan.»
    Der Strom ging wieder an. Überall im ersten Stock sprangen Tapetenmuster und Holzleisten ins Helle. Unten in der Küche toste die Geschirrspülmaschine in ihre nächste Phase. An der Vordertür fing die Alarmanlage wieder an zu piepen, in einem schrilleren Ton als vorhin. Der Brenner des Heizkessels im Keller zündete in einer Tonstufe unterhalb der des Windes und begann, mit einem Brausen stetiger als das des Windes, Wärme in das abkühlende Haus zu schicken. Verstärkte eifrige Stimmen im Parterre verkündeten, dass Lynne vor einer Stunde, bevor sie in Panik geriet, ferngesehen hatte. Ihr Gesicht, dem seinen so nah, dass ihrer beider Atem sich vermischte, schnellte zurück, wie im Schnitt auf die Werbung. «Ach du meine Güte», sagte sie, und ihre wund gescheuert aussehenden Augen stellten sich wieder auf eine größere Entfernung ein.
    «Bin gleich so weit», sagte er. Er begann, sein Hemd wieder zuzuknöpfen.
    «Du musst nicht gehen.» Aber auch sie, in ihrer Nacktheit, war verlegen; ihre Wangen glühten, als hätte sie Ausschlag.
    «Ich glaube doch.
Er
könnte anrufen», sagte er. «Mög licherweise auch
sie
, wenn man in Boston vom Stromausfall gehört hat. Du kommst jetzt klar. Hör zu, Lynne. Die Alarmanlage piept nicht mehr. Sie sagt: ‹Alles ist gut. Alles ist normal.› Sie sagt: ‹Wirf diesen Mann aus meinem Haus.›»
    «Nein», protestierte sie lahm.
    «Sie sagt: ‹Ich übernehme jetzt.›» Evan wandte die Augen von ihrer Nacktheit ab, von der Nacktheit seiner mageren wuscheligen Blonden. «Sie sagt», machte er ihr klar, «‹so ist es nun mal. Dies ist die reale Welt.›»

Das volle Glas
    Auf die achtzig zugehend, sehe ich mich manchmal aus einigem Abstand als einen Mann, den ich kenne, aber nicht näher. Normalerweise bin ich für Introspektion nicht zu haben. Meine Arbeit seit dreißig Jahren, die darin besteht, Holzfußböden wieder eine schöne Oberfläche zu geben, und die ich im Alleingang betreibe von einem kleinen weißen Truck, einem Chevrolet Spartan, aus, in dem ich elektrische Schleifmaschinen in mehreren Größen habe und Gurte und Sandpapierscheiben in verschiedenen Körnungen und Fünf-Gallonen-Kanister mit Polyurethan und Verdünner und Pinsel, die von kräftiger Sechszollbreite bis zu diagonal abgeschrägten Zwei-Zoll-Fensterrahmenpinseln reichen, für enge Ecken und mit der Stichsäge eingepasste Schwellen, diese Arbeit hat mich trainiert, nicht zu tief zu graben. In der Hocke auf den letzten trockenen Dielen zu balancieren wie ein mohikanischer Stahlgerüstarbeiter hat mich den Wert des Oberflächlichen gelehrt, dieser nassen, von Fußleiste zu Fußleiste glänzenden zweiten Schicht. Alles, was nötig ist, sind vierundzwanzig ungestörte Stunden, in denen sie einziehen kann. Manche dieser feinen alten Fußböden in New England, besonders die aus harter Gelbkiefer aus den Carolinas,die vor hundert Jahren in den besseren Häusern üblich waren, aber auch die neueren Böden aus kurzen gefederten Eichen- oder Ahornstücken entsetzen einen mit ihren achtlosen Kerben und Zigarettenbrandlöchern und den schwarzen Striemen von synthetischen Schuhsohlen. Geben Leute immer noch diese Art von Partys?
    Ich habe mich nach fünfzehnjähriger glattzüngiger Bürotätigkeit diesem Gewerbe zugewandt, als jemand, der vor einer romantischen Schmach geflohen ist, und enthalte mich flüchtigen Urteils, selbst bei Kunden, die arrogant genug sind, eine Dinnerparty anzuberaumen, sechs Stunden nachdem ich dem Parkett in ihrer Eingangshalle den letzten Schliff gegeben habe.
    Aber nun, da ich im Ruhestand bin – das Sägemehl legt sich einem auf die Lunge, und die Dämpfe greifen die Nebenhöhlen an, sogar wenn man eine Papiermaske trägt –, beobachte ich mich mit schärferer Aufmerksamkeit, so wie man ein Auge auf einen Fremden hat, der jeden Augenblick umkippen könnte. Einige meiner in letzter Zeit erworbenen Angewohnheiten kommen mir sonderbar vor. Abends, wenn ich mir die Zähne geputzt und mit Zahnseide die Zwischenräume

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