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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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mussten. Aber das Naserümpfen ordnete sie einer bestimmten Zeit zu und führte sie beide zurück.
    «Du warst so», hauchte er und suchte nach dem Wort, «so tauig.» Daran erinnerte er sich wirklich, bei all dem, was er vergessen hatte – ihre Tauigkeit, die stille, flaumige Feuchte ihrer Haut, wenn man ihr ganz nah war. «Es freut mich», setzte er hinzu, zur nüchternen erwachsenen Sprechweise zurückkehrend, «dass die Initiation erfolgreich war.»
    Dunkel hielten ihre Augen die seinen eine Sekunde lang fest, dann wandte sie sich mit einem Wimpernflattern ab und suchte in der sich zerstreuenden Menge nach ihrem Mann. Sie erkannte, dass er nicht formulieren konnte, was es zu formulieren gab, drückte seinen Arm durch den Jackettärmel und nahm dann ihre Hand weg.
Auf Wiedersehn in fünfzig Jahren.
«Ich wollte nur, dass du’s weißt», sagte sie.
    Warte
, dachte er, sagte stattdessen aber, ziemlich geistlos: «Danke, Elizanne. Wie lieb, dass du dich an so etwas erinnerst. Hey, du siehst phantastisch aus. Im Gegensatz zu den meisten von uns.»

    In der Nacht wälzte er sich, aufgeregt vom Treffen, neben Andrea im Bett des Alton Marriott hin und her, und noch Tage danach versuchte er, sich jenen Spaziergang ins Gedächtniszu rufen, der mit einem Kuss geendet hatte. Elizannes Haus und die Umgebung waren luxuriöser gewesen als sein Haus und seine Gegend, und das hatte ihn eingeschüchtert. Sie war nicht für ihn gedacht. Bald danach hatte er seine erste richtige Freundin gehabt, ein Mädchen aus der Klasse unter ihm, die ihm erlaubte, ihre Brüste zu halten und sie auszuziehen, glatt wie ein Fisch war sie gewesen im geparkten Auto. Wie alt waren sie wohl gewesen, er und Elizanne? Sechzehn, vielleicht fünfzehn. War es nach einem Footballspiel gewesen oder nach einer Tanzveranstaltung in der Schule? Er war eigentlich nie sehr gesellig gewesen, hatte auch nicht, nachdem sie aufs Land gezogen waren, als er vierzehn war, nach Lust und Laune in Olinger umherstreifen können, obgleich er weiter auf die Olinger High ging und mit seinem Vater morgens hinfuhr und nachmittags zurück.
    Sie war in der Marching Band, erinnerte er sich. Er sah sie vor sich in ihrer Uniform, das schwarze Haar hochgesteckt unter der Kappe und ihr weiblicher Körper irgendwie aufregend eng umschlossen von der goldgestreiften kastanienbraunen Hose und Jacke. Auf die Mädchen in den hohen weißen Stiefeln und kurzen flippigen Röcken, die die Stöckchen wirbeln ließen, folgte eine kastanienbraune Masse aus Jungen und Mädchen, und Elizanne war Teil dieser Phalanx. Welches Instrument spielte sie? Er dachte, Klarinette, aber das dachte er vielleicht nur wegen ihrer Farben; anders als die anderen Brünetten in der Klasse mit ihren gefärbten dunklen Wellen hatte sie wirklich schwarze Haare und schwarze Wimpern und Brauen. Die Haut ihres Gesichts war im Kontrast dazu leuchtend weiß gewesen. Der Flaum auf ihrer Oberlippe bildete zwei kleine dunkle Flecken.
    Mit der Erinnerung an den dunklen Flaum, der besondersauffiel, wenn man von oben auf ihr Gesicht sah, kam ihm noch etwas ins Gedächtnis zurück: mit ihr zu tanzen, sie eng an sich gedrückt zu halten, während sie die schleifenden Schritte machten, ihr Anstecksträußchen und ihr trägerloses Taftoberteil und ihr Taftrücken, ganz unten, mit den kleinen Knochengraten, und seine Füße und die Achselhöhlen und Schulterblätter im gemieteten Dinnerjacket, alles verschmolz zu einem einzigen Kontinuum von Schweiß, indes die Papierschlangen von der Decke hingen und die sich drehende Prismenkugel ihre Reflexionen über den Tanzboden gleiten ließ und die gestopften Trompeten der Band schluchzten und ihre Wiedergabe von «Stardust» oder «Good Night Irene» beendeten. Seine und Elizannes Wangen waren wie zusammengeklebt, und doch, wenn die Musik verstummte, wollte er sie nicht loslassen; keuchend wollte er immer mehr von ihr in sich hineintrinken, ihr perspektivisch verkürztes ernstes Gesicht mit der flaumigen Oberlippe, die tauige Fläche des Dekolletés, die weißen Bögen des trägerlosen Büstenhalters, die sich um ihren sanften Busen schmiegten.
    Wie oft hatten sie so getanzt? Warum war nicht mehr daraus geworden? Solange er denken konnte, hatte das andere Geschlecht formidable Kundschafter in seine Richtung ausgesandt – Mütter, Großmütter und Lehrerinnen, Barbara und Linda, die ihm auf dem Weg zur Schule seine Mütze wegnahmen, und brave Mädchen aus seiner Klasse wie Mamie und Sarah Beth,

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