Die Tränen meines Vaters
Versammlung der Abschlussklasse zum Besten gegeben hatten. Sarah Beth dankte streng der Reihe nach allen Komiteemitgliedern und warnte, dass ein Hut herumgereicht werde für das ausgezeichnete Bedienungspersonal des Fiorvante’s. Butch Fogel gab bekannt, wo morgen das Picknick stattfinde, im Shumacher’s Grove, auch wenn die T V-Meteorologen Regen vorhersagten. Die gemieteten Musiker, eine Keyboarderin und ein Bassist, brachten alte Songs, die zweifellos für irgendwen eine nostalgische Bedeutung hatten, aber nicht für sie, die Anwesenden.Ihre Songs waren unwichtige kuriose kleine Nummern in den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern gewesen, kurz bevor Presley und Doo Wop und Rock alles, was vorher gewesen war, obsolet erscheinen ließen – die Swingbands, die Crooners, die Vokalistinnen mit den Betonfrisuren, die verträumten Herzschmerz-Schnulzen, zu denen man einen trägen Boxstep tanzte, als wandle man im Schlaf. Es gab eine kleine Tanzdiele im Fiorvante’s, und vor fünf Jahren wagte ein Paar sich mit seiner Jitterbug-Version vor, und andere folgten. Jetzt: keiner. Die Olinger-High-Abschlussklasse von 1950 tanzte nicht mehr.
Als die Jahrgangsangehörigen begannen, in panischer Einmütigkeit zur Tür zu drängen, einem wie auch immer gearteten Schicksal entgegen, das die nächsten fünf Jahre bringen würden, kam Elizanne auf David zu, legte eine Hand auf seinen Arm und sprach mit ruhiger melodischer Dringlichkeit, als spreche sie zu sich selbst. «David», sagte sie in diesem fließenden Flüsterton, «es gibt etwas, das ich dir seit Jahren sagen möchte. Du warst sehr wichtig für mich. Du warst der erste Junge, der mich je nach Hause begleitet hat – und mich geküsst hat.»
Ihre Augen, deren strenger Blick im schummrigen Veranstaltungssaal weich wurde und die sich bei ihrem Geständnis weiteten, suchten die seinen, sodass ihre Lider mit den schwarzen Sternstrahlenwimpern sich hoben. Ihre Brauen hatten nichts Stirnrunzelndes mehr. Ihr Gesicht, so nah und perspektivisch verkürzt, schien aus großer Ferne angekommen. Vielleicht hatte sie ein, zwei Gläser getrunken – die Bar des Fiorvante’s war gleich draußen vor dem Veranstaltungssaal –, aber sie war nüchtern genug und er jetzt auch, er war geschockt: inmitten der lauten erwachsenenHöflichkeiten auf einmal diese Erinnerung an ihrer beider junges Selbst, ihr wahres, tastendes, verschwundenes Selbst.
«Ich erinnere mich an den Spaziergang», sagte er. Aber erinnerte er sich wirklich?
Elizanne lachte, ein wenig rüde – das wissende Lachen einer modernen Vorortfrau. «Ich bin dabei auf den Geschmack gekommen, kann ich dir sagen, für, na ja, was auch immer. Sagen wir, fürs Küssen.» Diese unschuldige Generation war in die sexuelle Revolution hineingewachsen und hatte sich beeilt, Schritt zu halten.
David wollte die erfahrene, abgebrühte Frau, die sie geworden war, ignorieren. Der vergessene Spaziergang kam ihm ins Gedächtnis zurück. Das befangene Schlendern durch Olinger im verdämmernden Licht und das Nah-Beieinander-Stehen vor der Tür ihres Elternhauses und dann sein Ausfall in den Kuss und ihre ebenso unbeholfene, aber heftige Bereitschaft für den Kuss. Er hatte sie geliebt, eine Jahreszeit lang. Wann? Warum war die Jahreszeit so kurz gewesen? Hatten sie welkes Laub vor sich hergeschoben, als sie durch die Stadt gingen, die Alton Pike mit ihren schimmernden Straßenbahnschienen entlang in die geradlinigen Straßen mit den Reihenhäusern aus Backstein und dann weiter nach Elmdale, der Gegend, wo die Straßen geschwungen waren und die Häuser einzeln auf ihrem Rasen standen, dessen Grün makellos war, ohne Unkraut, und die Häuser halb aus Holz und mit Schieferdächern und teuer, bis zu dem Haus, in dem Elizanne lebte? War es Frühling gewesen, durchwirkt mit sprießendem Grün und Gelb, oder Sommer, wenn Insekten schwärmten und Mädchen Shorts trugen, oder Winter, wenn einem vor Kälte die Wangen brannten? Ihre mit diesem schnöden Lachengemachte Andeutung, dass sie nach ihm andere geküsst habe, viele andere, hatte ihn getroffen. Sie hatte etwas hinzugefügt, das er nicht ganz mitbekommen hatte im allgemeinen Abschiedslärm oder weil seine Schwerhörigkeit zunahm, etwas wie «was ihr alle gewollt habt» – ein traurig billiges, allseits übliches Naserümpfen, so empfand er’s, über männliche Sexualität, die eine starke, so gut wie totgeschwiegene Triebkraft gewesen war, mit der die meisten Jungen allein fertigwerden
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