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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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glatten Gesicht dieser mysteriösen Frau hatten eine eulenhafte Schärfe, und ihre kohleschwarzen, entschieden geformten Brauen gaben ihr etwas Stirnrunzelndes, obwohl sie erwartungsvoll lächelte und versuchte, David über die Jahrzehnte hinweg stumm ihre Identität zuzusingen. Er musste daran denken, wie auf dem Weg zur Grundschule Barbara Moyer und Linda Rickenbacker ihm seine Mütze und seinen mit Wachstuch ausgeschlagenen Ranzen wegnahmen und ihre Beute geschickt so hielten, dass er nicht herankam, bis Tränen ihm in den Augen brannten und er vor Wut in die andere Richtung lief; dann jagten die Mädchen ihm nach und gaben ihm zurück, was sie ihm stibitzt hatten.
    Jetzt wurde er wieder von Mädchen in die Enge getrieben. Die Sekunden dehnten sich. Zwischen fülligen Frauen von siebenundsechzig oder achtundsechzig besteht eine Familienähnlichkeit. Er stotterte – ein altes Problem, längst überwunden –, als er anfing, den Namen eines Mädchens auszusprechen, Loretta Haldeman, die, wie ihm mitten im Stottern klar wurde, diese Frau nicht sein konnte, denn Loretta war zum Treffen vor fünf Jahren gekommen und hatte eine metallgefasste Brille mit einem undurchsichtigen Glas getragen; ein Auge wollte nicht mehr. Diese Frau mit dem strengen, glänzenden, unverwandten Blick wurde als Leckerbissen präsentiert, als Delikatesse, als Rarität. Sarah Beth gab ihm einen Tipp: «Dies ist das erste Treffen, zu dem sie gekommen ist.» Er versuchte, sich zu erinnern, welcheder beliebten Mädchen die Organisatoren immer vergrätzten, weil sie nie erschienen, weil sie seit fünfzig Jahren nicht erschienen, und so kam er kraft Deduktion und nicht so sehr, weil er sie wiedererkannte, auf ihren Namen: «Elizanne!» Es war ein Name wie kein anderer, der erste Buchstabe, lernten sie als Kinder, wurde so ausgesprochen wie das mysteriöse «et» am Ende von Chevrolet. Es zeugte von einer ehrgeizigen, eigenwilligen Mutter, eine Tochter mit einem derartigen Brandzeichen zu versehen, in einem so konservativen County.
    Elizanne trat vor, um sich küssen zu lassen; David zielte auf ihre Wange, obgleich sie nach der Art, wie sie die Lippen kräuselte, den Kuss gern auf den Mund bekommen hätte. «Wie wunderbar, dass du hier bist», sagte er, leicht verdutzt. Sie hatte nicht zu den spektakuläreren Mädchen in der Klasse gehört, war aber besser gealtert als die meisten. Ihr Kleid war aus grünblauer Seide, zurückhaltend, teuer, vorstädtisch chic; ihr Mann, das ultimative Accessoire, war groß und jovial, mit einem sacht anklingenden Südstaatenakzent, ein Geschäftsmann im Ruhestand oder kurz davor. Die beiden, stellte David sich vor, hatten sich zusammen für einen wohlverdienten Lebensabend gerüstet mit festgelegten Auslandsreisen, Enkelkinder-Hüten und Fitnessclub-Besuchen, mit der von strammer Arbeit erfüllten amerikanischen Freizeit nach dem Vorbild der gutaussehenden alternden Paare in Werbespots für Viagra und Eisenpräparate. Elizanne, spürte er, hatte ihren Weg gemacht. Ihr Gesicht zeigte, neben dem spröden raschen Lächeln, an das er sich erinnerte – ein Lächeln, das aufblitzte und gleich wieder verschwand –, ein sicheres Selbstgefühl, eine gefestigte soziale Identität, die sie für diesen Anlass vorübergehend abgelegt hatte, wie ein Herrenjackett,das zusammengefaltet in die Gepäckablage eines Flugzeugs kommt. Obgleich er sich durchaus freute, sie zu sehen, hatte er ihr doch wenig zu sagen und noch weniger dem gebräunten, gedehnt sprechenden Gatten, dem sie in Davids Vorstellung alle wie pennsylvaniadeutsche Provinzler vorkommen mussten. Die Anwesenheit dieses nachsichtigen Mannes wirkte sich hemmend aus, und David, begierig, am altmodischen Spaß, am Hervorkramen von Erinnerungen, teilzuhaben, verzog sich rasch.
    Erst gegen Ende des Abends, als ihre Ehepartner in der Menge untergetaucht waren, kam Elizanne auf ihn zu. Es hatte den stümperhaften Monolog des selbsternannten Klassenclowns gegeben, die E-Mail -Grüße von der leider in Florida unabkömmlichen Jahrgangspräsidentin, die rührende Botschaft von Mamie, die Sarah Beth laut vorlas. Das Mikrophon verstärkte das Kratzen in ihrer Kehle. «Wir haben den besten Teil gehabt», hatte Mamie geschrieben. «Keine Drogen, keine Gangs, keine Schießereien in der Schule, Achtung vor unseren Lehrern und den Glauben an Amerika.» Dann führten die Frankenhauser-Zwillinge, inzwischen gebeugt und schwerfüßig, eine Softshoe-Nummer auf, die sie das letzte Mal bei der

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