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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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die Hausaufgaben vergleichen wollten. Dann hatte die Oberfläche der Weiblichkeit, dieses turmhohen Mysteriums, in dessen Gegenwart er sein Leben verbringen musste, einem leichten Druck nachgegeben. Ohne ein Wort, ein Wort, an das er sich erinnern könnte, hatte Elizannesich seinen unbeholfenen Aufmerksamkeiten gefügt und eine sittsame Neugier erkennen lassen, was er für sie wohl tun würde.
    Der Spaziergang: noch Tage nach dem Treffen konnten seine Gedanken sich nicht von dem Spaziergang lösen, den sie ihm ins Gedächtnis gerufen hatte. Durch die verzerrende Linse des Alters gesehen, ragte er als eines der bedeutendsten Ereignisse seines Lebens auf. Die Geographie von Olinger war ihm eingewoben, den Muskeln in ihm, die sein Fahrrad schoben und seinen Schlitten zogen. Seine Eltern hatten sonntagnachmittags Spaziergänge gemacht, und er war hinterhergelaufen, bis seine Beine nicht mehr konnten.
    Ein Weg führte nach links, durch die Hintergasse an ihrer Hecke entlang in die neuen, aus regelmäßigen Blocks bestehenden Straßen auf der anderen Seite der Hauptdurchfahrtsstraße, der Alton Pike mit den glänzenden Straßenbahnschienen. Südlich der Pike war die Stadt älter, da stand Davids Haus in struppiger Nachbarschaft mit Häusern verschiedenster Bauweise und unbebauten Grundstücken, auf denen zum Teil Mais angebaut wurde. Er hatte die Blocks nördlich der Pike lieber, dort waren in den zwanziger Jahren identische Doppelhaushälften aus Backstein gebaut worden, die Veranden hatten eckige Säulen, und die Vorgärten waren terrassiert und mit Rasen bedeckt. Freunde wie Mamie wohnten in diesen behaglichen, ordentlichen Blocks, wo in den vorderen Wohnräumen Lebensmittelgeschäfte oder Bastelläden, eine Eisdiele oder ein Friseursalon untergebracht waren. Er liebte die Gedrängtheit der Häuser, ihre Gleichförmigkeit, die ihm ein Beweis für Ordnung und gemeinsame Vorstellungen zu sein schien, die in seiner eigenen zusammengestoppelten Wohngegend fehlten.
    Jenseits dieses Teils, wo einst eine Trabrennbahn vierundzwanzig Hektar beansprucht hatte, stellten Baunternehmer in den Jahren vor dem Krieg hübsche, freistehende Kalkstein- und Ziegelhäuser an Straßen, die sich an der Flanke des Shale Hill hinaufwanden. Davids Spaziergang mit Elizanne musste ihn von der Highschool oder ihrem Gelände an der Pike durch die geraden Straßen mit den Doppelhaushälften geführt haben, die oberhalb ihrer Veranden Panoramafenster hatten, in denen saisongemäße Dekorationen – Kürbisse aus orangefarbener Pappe und Fledermäuse aus schwarzem Papier zu Halloween, Weihnachtslametta, Osternester – von der Treue der Bewohner gegenüber dem christlichen Kalender kündeten. Die Bäume an den Straßen wechselten von Rosskastanien im alten Teil, in dem er wohnte, zu in dichten Reihen stehenden Spitzahornen an den solide gebauten geradlinigen Straßen, zu überhängenden, fedrigen Flatterulmen und Platanen mit abblätternder Rinde und hängenden Kugelfrüchten an den Straßen, die in Windungen verliefen. Diese Bäume waren lockerer, luftiger; es gab mehr Raum und Licht in dem kurvenreichen Teil, in dem Elizanne lebte, als ob man einen Hügel hinaufginge, was sich tatsächlich so verhielt, aber einen sanft ansteigenden Hügel des Geldes, des luftigen Privilegiertseins. Und doch hatte sie zugelassen, dass er sie küsste, dort vor ihrer Eingangstür mit den dicken vertieften Feldern, mit der Zweiklangglocke, und hatte sich seit mehr als fünfzig Jahren an diesen Kuss erinnert und von ihm gesprochen als von ihrem Eintrittsbillett fürs Wunderland des Sex.
    Wenn Mamie recht hat und wir ewig leben, dachte David, konnte er sich keine bessere Art vorstellen, die Ewigkeit zu verbringen, als diesen Spaziergang mit Elizanne wiederund wieder zu machen, bis alles, was sie sagten, wie sie einander berührten, ob er es wagte, ihre Hand in seiner zu halten oder nicht, und jedes Härchen im feinen schwarzen Flaum auf ihren Armen – bis all das so klar wurde wie tief in Marmor gemeißelte Buchstaben. Er würde Zeit genug haben, sie all das zu fragen, was er beim Treffen anlässlich des fünfzigsten Jahrestags aus Schüchternheit und Verlegenheit nicht hatte fragen können. War dies ihr erster Mann oder der letzte von mehreren? Hatte sie Affären gehabt in dem Vorort, den sie sich gewählt hatte? Hatte es im Band-Bus auf der Rückfahrt von den Footballspielen wirklich so viel Geknutsche gegeben, wie er gehört hatte? War es im Bus, wo sie weitermachte

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