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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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unmittelbar unter ihr.»
    Das Jahrbuch hatte nicht vorhergesagt, dass im Jahr 2000 noch irgendein Elternteil am Leben sein würde. «Meine Güte – deine Mutter muss neunzig sein», sagte David.
    «Und drüber. Wer hätte das gedacht, so wie sie geraucht hat? Und sie hatte auch nichts gegen einen Drink dann und wann.»
    «Sie war immer sehr nett zu mir», erinnerte er sich. «Ich konnte mich in eurem Haus aufhalten, auch wenn du nicht da warst, und warten, dass mein Vater in der Schule mit seinen außerlehrplanmäßigen Aktivitäten fertig wird. Deine Mutter und ich, wir haben immer Gin Rommé gespielt.»
    «Sie hat immer gesagt: ‹David wird seinen Weg machen›.»
    In der Erinnerung sah er ihre Mutter am Küchentisch sitzen wie eine einsame Mietshausbewohnerin, vom vorbeifahrenden Zug aus gesehen – Rauch hochkringelnd von einerChesterfield in einem gläsernen Aschenbecher, ein aufgefächerter Satz Karten in ihrer Hand, ein Glas mit einer getönten Flüssigkeit neben ihrem Ellbogen. Sie hatte teigige Ellbogen mit tiefen Grübchen, und sie und ihre Tochter hatten beide lockiges braunes Haar und volle gesprächige Lippen, die sich in den Winkeln nach oben zogen. Aber so übersprudelnd herzlich die beiden weiblichen Bewohner des Hauses David jedes Mal willkommen geheißen hatten – in den Zimmern hatte eine melancholische Müdigkeit genistet, eine gedrückte, wie von zugezogenen Vorhängen verdüsterte Stimmung. Es war eine Doppelhaushälfte, keine Fenster auf der einen Seite, und die auf der anderen Seite gingen aufs Nachbarhaus hinaus, das keine zwei Meter entfernt war. Mr. Kauffman, ein kleiner, grob maulfauler Dreher, hatte es abends nicht eilig, von der Arbeit nach Hause zu kommen. In Mamies sonniger Art, ihrer geschäftigen Fröhlichkeit in der Schule – die langen, glänzend gebohnerten Flure, die organisierten Aktivitäten, die von Klingelzeichen regulierten Gezeiten jungen Lebens – zeigte sich etwas von der Erleichterung, entkommen zu sein. Wie Davids Vater, der an derselben Schule unterrichtete, hatte Mamie sich ein Heim aus dem weitläufigen, nüchternen kommunalen Gebäude gemacht. Davids freundschaftliche Gefühle für sie hatten nie, auch nicht im Entferntesten, zu einem sexuellen Interesse geführt.
    «Apropos seinen Weg machen», sagte David.
    «Ja», sagte Mamie rasch, zu ihrer Lebhaftigkeit zurückfindend. «Ihr müsst los. Es bringt mich um, dass ich nicht dabei sein kann. Ich hab mir geschworen, ich würde vorbeikommen, und wenn es im Rollstuhl sein müsste. Aber meine Ärzte haben gesagt, es geht nicht. Ich wünsche euchbeiden einen wunderbaren Abend. David, denk dran, Sarah Beth etwas Nettes zu sagen über die Dekoration und die Begrüßungsgeschenke. Sie hat
geschuftet
, um alles in den Jahrgangsfarben zusammenzubringen.»

    Sarah Beth, ein schüchternes mageres Mädchen, aus dem eine flechsige, aggressive alte Frau geworden war, hatte wahrlich geschuftet. Die Wirkung war überwältigend – Girlanden aus Kastanienbraun und Kanariengelb, in der Mitte eines jeden Tisches ein Blumengesteck in den gleichen Farben, die Wände tapeziert mit vergrößerten Photographien, aufgenommen vor mehr als fünfzig Jahren, von Schulkindern mit Zöpfen und in Knickerbockers und dann von Teenagern in zweifarbigen Schnürschuhen und Faltenröcken, in Cordhemden und Lederjacken. Die Jungen sahen leicht bedrohlich aus mit ihren pomadisierten, straff zurückgekämmten Entenschwanzfrisuren und den ostentativ zur Schau gestellten Zigarettenpäckchen, die ihre Hemdtaschen eckig vorstehen ließen, und der hinters Ohr geklemmten einzelnen Filterlosen. Auch die Mädchen mit dem dick aufgetragenen Lippenstift und den künstlichen blonden Strähnen ließen die Entschlossenheit erkennen, sich vom künftigen Leben ihren Teil zu sichern.
    Jetzt war dieses Leben zwar zum größten Teil vorüber, aber der Veranstaltungssaal war erfüllt von Lärm, von fröhlichen Begrüßungen und altmodischen Neckereien: «Gott, hässlich wie eh und je! Wie heißt dein Freund – oder ist das dein Bauch?» Sarah Beth, der ohne Mamie die Rolle der Hauptorganisatorin zugefallen war, packte David am Ellbogen, steuerte ihn fort von den Photographien an der Wand und stellte ihn einer elegant gekleideten Frau mit jettschwarzenAugen und dazu passenden kurzgeschnittenen, geschmackvoll, wie mit Reif überflogenen Haaren gegenüber.
    «Weißt du, wer das ist?», fragte Sarah Beth. Ihr Ton war so aggressiv, dass er nicht denken konnte. Die Züge im

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